07. November 1997

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts
Nr. 94/97 vom 7. November 1997

Erfolglose Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit der bayerischen Neuregelung über das Anbringen von Kreuzen in Klassenräumen

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat drei Verfassungsbeschwerden gegen eine Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) vom 1. August 1997 nicht zur Entscheidung angenommen. Der VerfGH hatte Popularklagen gegen die bayerische Neuregelung über das Anbringen von Kreuzen in Klassenräumen der Volksschule abgewiesen.

Die Bayerische Verfassung und das Gesetz über den Bayerischen VerfGH lassen Popularklagen zu. Danach ist es jedem - nicht nur einem Betroffenen - gestattet, vor dem VerfGH die Verfassungswidrigkeit einer landesrechtlichen Vorschrift gel- tend zu machen. Es ist also nicht erforderlich, daß der Antragsteller selbst in eigenen Grundrechten betroffen ist.

I.

Mit Beschluß vom 16. Mai 1995 hat das BVerfG eine Vorschrift der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern für nichtig erklärt. Nach dieser Vorschrift war in öffentlichen Volksschulen in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen.

Im Anschluß an die Entscheidung des BVerfG vom Mai 1995 hat der bayerische Gesetzgeber im Dezember 1995 u.a. folgende, die Volksschulen betreffende Vorschrift erlassen:

"Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit soweit möglich zu berücksichtigen."

Gegen diese Vorschrift erhoben die Beschwerdeführer, u.a. der Vorsitzende des Bundes für Geistesfreiheit Augsburg, Popularklagen zum VerfGH. Drei von ihnen lehnten in der mündlichen Verhandlung die Präsidentin des VerfGH sowie einen weiteren Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung hieß es u.a., die Präsidentin habe nach der ersten Lesung der Neuregelung an einer Veranstaltung teilgenommen, bei der einseitige Kritik an der Entscheidung des BVerfG vom 16. Mai 1995 geübt worden sei. Hinsichtlich des weiteren Richters bestehe die Besorgnis der Befangenheit u.a. deshalb, weil er viele Jahre Präsident des Landeskomitees der bayerischen Katholiken, des Hauptorganisators der großen Kruzifix-Demonstration im September 1995 in München, gewesen sei.

Diese Befangenheitsanträge wies der VerfGH - ohne Mitwirkung der Präsidentin und des anderen abgelehnten Richters - als unbegründet zurück. Sodann wies er die Popularklagen ab, weil die angegriffene Norm nicht gegen Grundrechte der Bayerischen Verfassung (Glaubensfreiheit, religiöses Schweigerecht, Gleichheitssatz, elterliches Erziehungsrecht) verstoße. Die in der Neuregelung enthaltene Konfliktlösung für den Fall, daß der Anbringung eines Kreuzes widersprochen werde, eröffne einen schonenden Ausgleich, der den widerstreitenden Grundrechtspositionen der Glaubensfreiheit gerecht werde. Dem Betroffenen seien ein solcher Widerspruch sowie dessen Begründung auch zumutbar.

Der VerfGH führte weiter aus, er sei an der Feststellung, daß die angegriffene Regelung der bayerischen Verfassung nicht widerspreche, nicht durch die Entscheidung des BVerfG vom 16. Mai 1995 gehindert.

Gegen die Abweisung der Popularklagen erhoben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. Sie rügten zum einen eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), weil der VerfGH von der Entscheidung des BVerfG vom 16. Mai 1995 abgewichen und deshalb verpflichtet gewesen sei, nach Art. 100 Abs. 3 GG die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Die Vorschrift lautet:

"Will das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes oder des Verfassungsgerichtes eines anderen Landes abweichen, so hat das Verfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen."

Gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter sei zudem durch die Zurückweisung der Befangenheitsanträge verstoßen worden.

Zum anderen habe der VerfGH auch den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

II.

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen.

Zur Begründung heißt es u.a.:

  1. Ein Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter läßt sich nicht feststellen.

    Zwar kann ein Gericht hiergegen auch dann verstoßen, wenn es seine Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht außer acht läßt. Die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters schützt jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG nur gegen Willkür.

    Der VerfGH hat eine Vorlageverpflichtung mit der Begründung verneint, daß er bei der Überprüfung der angegriffenen Rechtsvorschriften keine "Auslegung des Grundgesetzes" im Sinne des Art. 100 Abs. 3 GG vornehme, sondern eine Kontrolle anhand der Bayerischen Verfassung durchführe. Dieser Ansatz entspricht der Rechtsprechung des BVerfG und kann schon deshalb nicht als willkürlich angesehen werden. Damit ist auch kein Raum für eine Überprüfung des Vorbringens der Beschwerdeführer, daß die Entscheidung des VerfGH in mehrfacher Hinsicht mit dem Beschluß vom 16. Mai 1995 nicht übereinstimme.

    Auch die Zurückweisung der Ablehnungsanträge wegen Besorgnis der Befangenheit war nicht willkürlich, sondern zumindest vertretbar und läßt sachfremde Erwägungen nicht erkennen.

  2. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist ebenfalls nicht verletzt.

    Soweit drei der Beschwerdeführer der Meinung sind, der VerfGH sei nicht genügend auf ihre Rechtsauffassung hinsichtlich des Abweichens von der Entscheidung des BVerfG eingegangen, vermag dies einen Gehörsverstoß nicht zu begründen.

    Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte nicht, der Rechtsansicht einer Partei zu folgen oder auf jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen einzugehen. Der VerfGH hat seine Auffassung zum Umfang der Bindungswirkung des Beschlusses des BVerfG vom 16. Mai 1995 eingehend begründet und damit gleichzeitig zu erkennen gegeben, daß er den darüber hinausgehenden Gedanken der Beschwerdeführer nicht zu folgen vermochte. Zu einer weitergehenden Begründung war er nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht verpflichtet.

Beschluß vom 27. Oktober 1997 - 1 BvR 1604/97

Karlsruhe, den 7. November 1997