Friedrich Koja (Hrsg.), Hans Kelsen oder Die Reinheit der Rechtslehre

(= Monographien zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte 5). Wien: Böhlau 1988

Österreichs Beitrag zur Kultur- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist vor allem in Österreich relativ spät wiederentdeckt und ausgearbeitet worden. Die hier im Titel genannte Reihe soll mithelfen, den Geisteskontinent Österreich in seiner Vielfalt und Bedeutung für die Gegenwart zu erschließen.

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Der Name Hans Kelsen wird zumeist nur mit der österreichischen Bundesverfassung von 1920 in Verbindung gebracht. Die Tatsache, daß dieser große österreichische Rechtsgelehrte zunächst die Heimat und kurz darauf Europa verlassen mußte und den Rest seines Lebens in Amerika wirkte, dürfte mit dazu beigetragen haben, daß die überragende Bedeutung Hans Kelsens in der Heimat viel zuwenig bewußt wurde. Die vorliegende Biographie skizziert einerseits sein Leben, andererseits wird die Entwicklung seines Werkes deutlich gemacht, vor allem aber kommen die Hauptthemen und Schwerpunkte der reinen Rechtslehre zur Darstellung. Den Hauptteil des Werkes bilden ausgewählte Texte Hans Kelsens.

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Dementsprechend ist das Buch in drei Teile gegliedert: I. Das Leben. II. Das Werk. III. Ausgewählte Texte.

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Als Hans Kelsen am 19. April 1973 im Alter von mehr als 91 Jahren in Berkeley in Kalifornien starb, konnte er auf ein Lebenswerk zurückblicken, das in seiner Fülle und Vielfältigkeit einzigartig ist. Kelsen wurde nicht nur wiederholt als "Jurist des Jahrhunderts" bezeichnet, er war auch ein philosophischer Autor von erstaunlicher Produktivität, ein bedeutender Ideologiekritiker und Weltanschauungstheoretiker, ferner Richter am österreichischen Verfassungsgerichtshof sowie schließlich Rechtsgutachter von nationalem wie internationalem Rang. Die Zahl seiner Veröffentlichungen - darunter umfangreiche Werke - betrug zu seinem Lebensende weit über 600, und noch in seinem Nachlaß fand sich das wichtige Buch "Allgemeine Theorie der Normen", an dem Kelsen in seinen letzten Lebensjahren unermüdlich gearbeitet hatte und das posthum publiziert wurde. Im folgenden wird das Leben Kelsens ausführlich dargestellt. Naturgemäß wird der Arbeit an der Bundesverfassung Österreichs von 1920 breiter Raum gewidmet. Wenn man Kelsen auch, wie Koja bemerkt, nicht als den "Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung bezeichnen kann", was bisher in der Literatur häufig geschah, so scheinen doch in die Verfassungsvorentwürfe des Staatssekretärs Mayer Gedanken Kelsens eingegangen zu sein. Nachdem die Initiative zur Verfassung den Ländern entglitten war, nahm sich die Staatsregierung der Aufgabe der Verfassungsgebung an und setzte ein Komitee ein, das aus Staatskanzler Renner, Vizekanzler Fink, Staatssekretär Mayer und dem wissenschaftlichen Konsulenten der Staatskanzlei, Kelsen, bestand. Da Renner aufgrund vielfältiger anderer Verpflichtungen nur wenig Zeit für Verfassungsfragen hatte, beschränkte er sich darauf, Kelsen einige wenn auch wichtige politische Direktiven (parlamentarische Demokratie, bundesstaatliche Gliederung usw.) zu geben. Kelsen arbeitete mehrere Entwürfe aus, um verschiedenen politischen Lösungsmöglichkeiten Rechnung tragen zu können. Natürlich mit Hilfe anderer Beamter. Kelsen war, wie er selbst betonte, im Rahmen der politischen Direktiven bemüht, einerseits die schweizerische Bundesverfassung, andererseits die Verfassung der Weimarer Republik zum Vorbild zu nehmen. Ferner wurde alles Brauchbare aus der provisorischen Verfassung 1918, aber auch aus der Verfassung der Monarchie - wie etwa die vorbildlichen Einrichtungen des Verwaltungsgerichtshofes und des Reichsgerichtes - in die definitive Verfassung übernommen. Aus dem Reichsgericht machte Kelsen einen echten Verfassungsgerichtshof, den ersten in Europa. Das ist wohl auch sein wichtigster Anteil an der österreichischen Bundesverfassung von 1920. A. Merkel, von Kelsen als Mitbegründer der reinen Rechtslehre bezeichnet, betont: "Es ist ein offenes Geheimnis, daß der Text des Bundesverfassungsgesetzes auf dem Konzept Kelsens beruht, welches sowohl von der christlich-sozialen als auch von der sozialdemokratischen Partei zu je einem parteipolitisch gefärbten Verfassungsentwurf adaptiert worden war. Diese beiden Verfassungstexte, in denen Kelsens Gedankengut unverkennbar enthalten ist, wurden sodann im Zuge der parlamentarischen Verhandlungen in echt demokratischer Redaktionstechnik unter nachhaltiger Mitwirkung Kelsens als des verfassungsrechtlichen Beraters des Verfassungsausschusses zu einem kompromissarischen Text verschmolzen, der als Bundes-Verfassungsgesetz Gesetzeskraft erlangt hat" (17).

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Im November 1930 trat Kelsen sein Ordinariat in Köln an. Von 1933 bis 1936 wirkte er am "Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales" in Genf. Noch während seiner Genfer Zeit nahm er eine Berufung an die deutsche Universität in Prag an, 1939 entschloß er sich, in die Vereinigten Staaten auszuwandern.

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Der II. Teil (Das Werk) beschäftigt sich mit dem neukantianischen Ansatz, dem positivistischen Ansatz und dessen wissenschaftlichem Hintergrund, der Grundnorm, dem Gegenstand der reinen Rechtslehre, den Hauptpunkten der reinen Rechtslehre (Funktionen der Normen, der fehlerhafte Staatsakt, der Stufenbau der Rechtsordnung, zum Interpretationsproblem) und dem Naturrecht sowie Recht und Politik.

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Am Anfang steht die schwierige Frage, welcher Weg für die Rechtswissenschaft noch offen ist, wie Rechtswissenschaft betrieben werden kann, ohne den normativen Sinn des Erkenntnisgegenstandes zu verleugnen und ohne die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis zu überschreiten. Diese Problematik löste Kelsen durch die Einführung der Grundnorm. Diese muß von jenem als Annahme seiner wissenschaftlichen Bemühungen vorausgesetzt werden, der die Anordnungen der sozialen Autorität - ihrem intentionalen Sinn nach - als Sollensanordnungen deuten will. Bei Kelsen steht ja die strikte Trennung von Sein und Sollen im Vordergrund. Diese Annahme ermöglicht also die Beschreibung der Anordnungen so, als ob sie gälten. Die Grundnorm - eine transzendentale Voraussetzung - macht somit erst eine exakte und normative Rechtswissenschaft möglich. Diese Lösung der Problematik läßt auch die philosophische Basis der reinen Rechtslehre - nämlich Kant in der Weiterentwicklung durch Cohen - erkennen; darüber hinaus bedient sie sich auch der Philosophie des "als ob" von Vaihinger. Die Funktion der Grundnorm ist also Geltungsbegründung. Sie begründet nur das "Ob" der Rechtsordnung (ihre Existenz), nicht aber das "Was" (den Inhalt). Dieser Inhalt stammt aus dem Willen des Normerzeugers. Die Grundnorm ist also keine Norm wie jede andere. Sie gilt nicht, sondern wird angenommen. Sie steht auch an der Spitze des Stufenbaus der Rechtsordnung (diese Lehre wurde dann später von A. Merkel weitergeführt) und ist der letzte Geltungsgrund für die Rechtsordnung in einem bestimmten Staate.

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Übersichtlich und knapp werden die Hauptpunkte der reinen Rechtslehre dargestellt. So ergibt sich insbesondere aus der strengen Unterscheidung von Sein und Sollen die Ablehnung des Naturrechts, welches ja eine metaphysische, den Gegensatz dieser beiden Kategorien überwindende Norm annimmt. Nach Kelsen ist nur in der Idee Gottes ein Sein gegeben, das zugleich eine normative Instanz darstellt, und nur unter Zugrundelegung dieser Einheit haben die Seinstatsachen der Natur, auf die sich das Naturrechr beruft, gleichzeitig auch normativen Charakter. Da aber Kelsen die Erkenntnis Gottes und absoluter Werte, die letzten Endes in Gott ihren Ursprung haben, wissenschaftlich für unmöglich hält - der Bereich des Glaubens ist eine andere Art des Zugangs zu Gott und der Welt der Werte -, fällt für ihn die Möglichkeit einer naturrechtlichen Begründung der Rechtsordnung weg. Die Naturrechtslehre ignoriert nach Kelsen nicht nur die Unterscheidung von Sein und Sollen, sondern auch die methodisch und praktisch nicht minder wichtige zwischen Erkennen und Wollen. Die Naturrechtslehre gibt vor, daß das Gewollte lediglich eine Transformation des Erkannten sei, und setzt sich damit über die Andersartigkeit bzw. Selbständigkeit der beiden genannten menschlichen Funktionen, die auch durch die Erfahrung bestätigt wird, hinweg. Für die reine Rechtslehre ist die Norm nicht das Ergebnis eines Denkprozesses, sondern der (objektive) Sinn eines (subjektiven) Willensaktes, dem zwar durchaus rationale Überlegungen vorausgehen können (und sollen), der aber als normative Größe nur aufgrund der nächsthöheren Norm zu begreifen ist. Das rechtstheoretische Instrumentarium. das auf der Grundlage der Lehre Kelsens entwickelt wurde, ermöglicht die Beschreibung und die Analyse jeder Rechtsordnung, ohne Rücksicht auf ihren Inhalt. Durch die Beschränkung der Rechtstheorie auf Aussagen über formale Charakteristika und Strukturelemente und die auf dieser theoretischen Grundlage erfolgende wertfreie Behandlung von Rechtsordnungen bleibt die Frage nach der moralischen Bewertung des Inhaltes einer konkreten Rechtsordnung offen.

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Es ist wichtig, was Koja zu dieser Frage bemerkt, denn sie wurde oft zum Anlaß für die Behauptung genommen, die reine Rechtslehre mache damit die Rechtswissenschaft erst recht zum Dienstboten der politischen Herrschaft, weil sie zur Legitimation jedes Regimes, auch einer Gewaltherrschaft, veranlasse. Zu den beliebtesten Vorwürfen zählt ja jener, daß der Kelsensche Positivismus keine Handhabe gegen undemokratische und totalitäre Systeme biete, weil die reine Rechtslehre - unter der Voraussetzung der regelmäßigen Wirksamkeit - alle Rechtsordnungen ungeachtet ihres Inhalts legitimiere und auch inhumanen Systemen die Qualifikation als Staat nicht versage. Koja bemerkt hierzu, daß dieser Vorwurf am Selbstverständnis, aber auch an der objektiven Bedeutung der reinen Rechtslehre vorbeigehe (61). Durch die Trennung von Recht und Moral, durch die Ablehnung der moralischen Bewertung einer Rechtsordnung durch die Wissenschaft wird die Frage der ethischen Qualifikation lediglich aus dem Bereich der wissenschaftlichen Aussagen ausgeschieden. Dadurch wird niemals eine Rechts- bzw. Herrschaftsordnung legitimiert; damit ist auch kein Postulat der moralischen Indifferenz des einzelnen Wissenschaftlers gegenüber den Erscheinungen der Politik verbunden. Allerdings kann ein Wissenschaftler für seine moralischen Bewertungen einer Rechtsordnung nicht den Anspruch auf objektive Wahrheit erheben, wie er dies - bei aller Beachtung menschlichen Irrens - für seine wissenschaftlichen Aussagen tun darf. Weder der moralischen Legitimation noch der Verwerfung eines politischen Systems kann der Charakter einer wissenschaftlichen Aussage zukommen. Die reine Rechtslehre lehnt von ihrer methodischen Position aus nicht nur die naturrechtliche Infragestellung, sondern auch die naturrechtliche Überhöhung einer positiv-rechtlichen Ordnung ab. Durch ihre Unterscheidung zwischen Rechts- und Moralnorm gibt sie dem Individuum sowie gesellschaftlichen Gruppen durchaus die Möglichkeit, sich unter Berufung auf die Moralnorm gegen die Rechtsnorm zu stellen. Allerdings vermag die reine Rechtslehre dem einzelnen oder revolutionären Gruppen das Risiko eines solchen Tuns nicht abzunehmen. Man muß sich also der Grenzen der Leistungsfähigkeit der Wissenschaft bewußt sein, selbst wenn dieses Eingeständnis als schmerzlich empfunden werden mag.

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Es wurde schon betont, daß Hans Kelsen als der Schöpfer des Verfassungsgerichtshofes in Osterreich, des ersten in Europa, bezeichnet werden kann. Bis 1930 war er selbst Richter an diesem Verfassungsgerichtshof. In seiner Kölner Zeit hat er sich dann auch Fragen der Weimarer Reichsverfassung und Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit zugewendet. In seiner 1931 erschienenen Schrift "Wer soll der Hüter der Verfassung sein?" antwortet er auf Carl Schmitts "Der Hüter der Verfassung". Der Behauptung, daß die in Rede stehende Funktion dem Reichspräsidenten als einem neutralen, über den Parteien stehenden Organ zukommen solle, widersprach Kelsen mit überzeugenden Argumenten; er zeigte demgegenüber die Unentbehrlichkeit eines Verfassungsgerichtshofes auf.

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Der III. Teil (Ausgewählte Texte) enthält folgende Leseproben aus dem Werk Hans Kelsens: Staat und Recht; Zum Problem der soziologischen oder juristischen Erkenntnis des Staates; Die Funktion der Verfassung; Die Interpretation; Das Wesen der Interpretation; Authentische und nichtauthentische Interpretation; Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit; Das Problem des Parlamentarismus; Marx oder Lassalle; Wandlungen in der politischen Theorie des Marxismus; Naturrechtslehre und Rechtspositivismus.

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Anders als in der Bundesrepublik Deutschland hat die reine Rechtslehre heute noch weltweit zahlreiche Anhänger, nicht nur in Österreich. Es ist unbestreitbar, daß die reine Rechtslehre Wesentliches zur Begrifflichkeit und zur Struktur des Rechtes und zu heute unverzichtbaren Institutionen der Demokratie (Stufenbau der Rechtsordnung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Geltung der Norm) beigetragen hat. Viele, die sich heute gegen die reine Rechtslehre wenden, sind im Grunde jedoch ihrer Methode verhaftet (so W. Naucke).

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Auch dem Kirchenrecht bzw. der Kanonistik würde manche Anleihe bei der reinen Rechtslehre nicht schaden. Dies gilt vor allem für die noch immer mangelhafte Systematik der Normen (der neue Codex hat sich hier bemüht, etwas mehr System hineinzubringen, indem er relativ genau nicht mehr nur zwischen gesamtkirchlichen und partikularkirchlichen Gesetzen, sondern auch zwischen Gesetzen, Verordnungen und Instruktionen unterscheidet), für die Tatsache, daß im Kirchenrecht die Frage nach dem Verfassungsgesetz noch immer offen ist, was zur Konsequenz hat, daß das Grundrecht auf Rechtschutz (c. 221) noch immer nicht konsequent durchgeführt ist, reicht aber bis zum Dialog und zur Konfliktlösung. Es ist wichtig, von einem überpositiven Recht auszugehen, dessen normativer Charakter allerdings noch zu bestimmen ist. Es ist also richtig, die Menschenrechte als Grundlage jeder Rechtsordnung zu nehmen. Heute besteht freilich die Gefahr, daß dieser Ansatz dem anderen, dem römischen Recht entstammenden, der die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit rechtlicher Entscheidungen betont, widerstreitet.

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Ist nicht die ganze Misere des Rechtes in Kirche und Staat - wenn heute Normen erlassen werden, sind sie oft nicht vollziehbar, ihre Anwendung ist oft nur unter Zuhilfenahme weiterer Interpretationen und Entscheidungen möglich - darauf zurückzuführen, daß die Abkehr von einer guten juristischen Methode zu einer gewissen Orientierungslosigkeit geführt hat? Müßten nicht Gesetze von Leuten gemacht werden, die eine entsprechende Ausbildung haben? In der Kirche ist es oft erschreckend zu sehen, daß diejenigen, die Gesetze machen und die die Hüter des Gesetzes sind, keine entsprechende kirchenrechtliche Ausbildung haben. Ich möchte daher Friedrich Kojas Buch jedem empfehlen, der meint, in der heutigen Zeit um etwas mehr Rechtssicherheit bemüht sein zu müssen. Wer tiefer eindringen will, dem sei die erste Auflage der reinen Rechtslehre Hans Kelsens empfohlen.

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Richard Puza