Adel Theodor Khoury, Christen unterm Halbmond

Religiöse Minderheiten unter der Herrschaft des Islam. Freiburg: Herder, 1994. 155 S. Kart. DM 24,80

Ende Juni des Jahres 1995 wurde in Rom eine Moschee eröffnet. Viele Jahre hat es gedauert, bis es so weit gekommen ist, aber nun haben die Muslime in Rom ihr eigenes Gotteshaus. Dazu war unter anderem notwendig. daß Rom im Konkordat von 1954 mit der katholischen Kirche nicht mehr als Heilige Stadt bezeichnet wurde. Das säkularisierte Italien bringt es heute zusammen, daß die Religionen friedlich-öffentlich nebeneinander leben können. Zum Vertrag mit dem Islam ist es bisher, anders als in Spanien, zwar noch nicht gekommen, man ist aber auf dem Weg dorthin. Anläßlich der Eröffnung der Moschee war von seiten der katholischen Kirche mehrfach zu hören, daß man eigentlich Reziprozität verlangen müßte. Also eine katholische Kirche in Mekka? Diese Frage kann nun wirklich nicht im Vordergrund stehen. Das Prinzip der Reziprozität gehört in das internationale Privatrecht. Hier wäre die Frage zu stellen. welche Interessen ein europäischer Staat an einer katholischen Kirche in Mekka oder in einer sonstigen islamischen heiligen Stätte haben könnte. Außerdem hinkt der Vergleich. Der Islam ist heute Teil der europäischen Kultur. Und wenn man zurückdenkt, war er es eigentlich immer, seit es ihn gibt. Die Eröffnung der Moschee in Rom ist also eher Anlaß, sich der Präsenz des Islam in Europa bewußt zu werden. Dabei sind die Muslime heute in Europa nicht mehr nur Eingewanderte oder Fremde. In der zweiten und dritten Generation gehören sie heute zu den Bürgern. Das ist natürlich in Deutschland etwas anders, wo das "Recht des Blutes" gilt. Aber auch hier gehört der Islam als Kultur heute schon zumindest in den größeren Städten und in manchen Gegenden zum täglichen Bild. Grund genug also, sich mit dem Islam zu befassen, mit ihm bzw. mit seinen verschiedenen Spielarten das Gespräch zu suchen. Auch der Islam ist nämlich keine einheitliche Erscheinung, sowenig wie das Christentum. Auch das dringt erst langsam ins Bewußtsein.

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Das mag aber Grund genug sein, auf das Taschenbuch hinzuweisen, das Adel Theodor Khoury, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Münster / Westfalen, über die religiösen Minderheiten unter der Herrschaft des Islam geschrieben hat. Dabei ist dieses Buch in weiten Partien historisch zu verstehen. Es sind verschiedene Aufsätze, die zu einem Ganzen verbunden worden sind. Khoury beginnt mit einer kurzen Einführung in das islamische Rechtssystem (15ff). Und hier steht gleich am Anfang die interessante Feststellung, daß das Gesetz des Islam zwar in seiner Grundlage der Ausdruck des souveränen Willens Gottes ist, der dabei an keine vorgegebenen Maßstäbe gebunden ist, daß Gott aber seine Verordnungen so gestaltet hat, daß sie der Erleichterung für die Menschen dienen und ihnen keine unerträgliche Last aufbürden. Wenn sich erweist, daß eine Bestimmung mit zu vielen Schwierigkeiten in der Praxis verbunden ist, dann wird den Gläubigen immer wieder Erleichterung gewährt. Der Koran hat diese Tendenz seiner Gesetzgebung sogar als Grundsatz formuliert: "Gott will sich euch zuwenden (...) Gott will euch Erleichterung gewähren. Der Mensch ist ja schwach erschaffen worden" (4, 27-28). Und hier gleich eine interessante Überlegung: Heute taucht der Gedanke auf, ob nicht eine Parallele zwischen dem islamischen Gesetz (der Sharí'a) und dem katholischen Kirchenrecht besteht. Ein erster Vergleich könnte fast meinen, daß das islamische Gesetz barmherziger sei. Aber auch im Kirchenrecht gibt es ja Tendenzen, daß die Vorschrift zwar radikal sein soll, die Anwendung im Einzelfall hingegen pastoral. Daß der Vergleich mit dem Kirchenrecht jedoch hinkt, wird sich noch zeigen.

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Das islamische Rechtssystem befaßt sich mit folgenden Gebieten: religiöse Pflichten ('ibadat), Familienrecht, Erb-, Eigentums- und Vertragsrecht (mu'amalat), Straf- und Prozeßrecht, Verwaltungsrecht und Führung des Krieges. Die praktische Anwendung des islamischen Gesetzes im einzelnen obliegt dabei den Gläubigen und auch der Gemeinschaft. Von Amts wegen haben die Gesamtleiter der islamischen Gemeinschaft (Khalif, Imam, SuItan usw.) und der Richter (qadi) die Aufgabe, das Gesetz zur Anwendung zu bringen. Ihnen steht als Beratungsinstanz der Rechtsgelehrte (faquih, 'aIim; beamteter Rechtsgelehrter: mufti) zur Seite. Der Rechtsgelehrte berät die Regierung in Fragen, die mit der legislativen Funktion zusammenhängen. Er kennt die Vorschriften des Koran und die Rechtsnormen, die in der Tradition festgelegt sind. Er besitzt auch die Urteilskraft, um Möglichkeit und Modalität der Anwendung des Gesetzes auf die konkreten Fälle zu erkennen und, wenn er Beamter ist, auch offiziell festzustellen. Auch dem Richter ist der Rechtsgelehrte eine Hilfe bei der Rechtsprechung. Jeder Gläubige darf den Rechtsgelehrten angehen, ihn in einem konkreten Fall um Rat ersuchen und bei ihm verschiedene Rechtsgutachten einholen. Wer die Berichte über die islamische Welt aufmerksam verfolgt, wird merken, wie sehr diese Aussage Khourys auch heute stimmt. Der Richter ist zuständig für die allgemeine Rechtsprechung. Dabei kennt die islamische Tradition eigentlich nur den Einzelrichter. Er stützt sich bei seiner Entscheidung auf das Rechtsgutachten der Rechtsgelehrten. Er stellt den Tatbestand aufgrund der Aussagen glaubwürdiger Zeugen oder des Geständnisses des AngekIagten selbst fest. Wenn das koranische Gesetz eine bestimmmte Strafe für eine schwere Übertretung oder eine schwere Strafe festlegt, hat der Richter die Pflicht, eben diese Strafe zu verhängen. Deshalb wird jetzt wohl auch bei Apostasie wieder häufiger die Todesstrafe verhängt. Dem Richter steht es nicht zu, die Strafe zu ändern oder sogar zu übersehen. Freie Entscheidung über das Strafmaß besitzt der Richter nur in den Fallen, deren Regelung in sein Ermessen gestellt ist.

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Wichtigste Rechtsquelle ist der Koran. Koranverse, die sich auf die rechtlichen Bestimmungen beziehen, werden in eindeutige und mehrdeutige eingeteilt. Bei den eindeutigen Koranstellen handelt es sich um solche Verse, deren Wortlaut nur eine mögliche Interpretation zuläßt (z. B. 4, 12: "Euch steht die Hälfte dessen, was eure Gattinnen hinterlassen, zu, wenn sie keine Kinder haben"). Die mehrdeutigen Stellen lassen mehrere Interpretationen zu, z. B. die Vorschrift über die Waschung vor dem Gebet: "(...) Und streicht euch über den Kopf (...)" (5, 6). Dabei ist nicht deutlich, oh es sich um das ganze Gesicht oder um nur einen Teil davon handelt. Von Khoury wird nicht erwähnt, daß es noch eine dritte Form von Bestimmungen zu geben scheint, nämlich jene, die der Weiterentwicklung fähig sind. Dies ist allerdings heute unter den islamischen Gelehrten strittig. Zweite Hauptquelle des islamischen Rechts ist die Sunna, dann folgen die Hadith, die Urkunde der islamischen Tradition, und die Handhabung der Sunna. Der Konsens ist die Übereinstimmung aller Rechtsgelehrten aller Zeiten nach dem Tod des Propheten Muhammad in der Feststellung einer bestimmten praktischen Rechtsvorschrift. Als sekundäre Quellen des Rechts und Techniken zur Feststellung der Rechtsnorm nennt Khoury die Analogie (quyas), den Brauch ('urf), das Gewohnheitsrecht ('ada), das eigene Urteil (ra'y). Darüber hinaus gibt es verschiedene Grundsätze der Urteilsbildung (idjtihad). Dazu zählen das Für-gut-Halten (istihsan), das Interesse, die Anerkennung der bestehenden Rechtslage sowie die Billigkeit und Erleichterung. Das Prinzip der Billigkeit (Verwirklichung des Guten: 16, 90) erlaubt, die Umstände zugunsten der Menschen auszulegen und das Recht so zu gestalten, daß sie dadurch eine Förderung ihres Lebens, ihrer Anliegen und ihrer Frömmigkeit erfahren.

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Es gibt vier große islamische Rechtsschulen: Die Hanafiten, die Malakiten, die Shafi'iten und die Hanbaliten. Sie werden von Khoury in dem Buch in ihrer jeweiligen Bedeutung (auch territorial) gut dargestellt. Am SchIuß dieses Abschnittes betont Khoury, daß das heutige Wiedererwachen des Islam in vielen Menschen die Frage aufkommen lasse, welche Richtung die Muslime unserer Zeit einschlagen werden. "Werden die Träger der islamischen Renaissance ihre VöIker ins geschlossene Rechtssystem des Mittelalters zurückführen? Besitzt der Islam in sich so viel Kraft und Mut, die Herausforderung der modernen Zeit aufzunehmen und sich eine Gestalt zu geben, die es ihm ermöglicht und erleichtert, seine Rolle zum Wohl seiner Gläubigen zu erfüllen und auch seinen Beitrag zum Wohl der Menschen zu Ieisten?' (40)

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Die folgenden Kapitel sind der Haltung des Korans, Muhammads und der rechtgeleiteten Kalifen zu den Christen gewidmet. Die anfängliche Freundlichkeit Muhammads gegenüber den Anhängern der Buchreligionen (Juden und Christen) hat sich aus politischen Gründen wohl bald gewandelt. Legte der Koran zunächst den Akzent auf die Zusammengehörigkeit von Muslimen und Christen, so trat bald auch eine gewisse Gegnerschaft auf. Khoury stellt knapp die Sicht dar, die der Koran von den Christen hat. Der Koran weist ihnen die Rechtsstellung von Schutzbürgern (Dhimmi) innerhalb des islamischen Staates zu. Dabei spricht er sich eindeutig für ein Nebeneinander verschiedener religiöser Gesetze aus (Tora: 5, 43.44; Evangelium: 5, 46-47). Khoury meint dazu, ob diese koranischen Bestimmungen wirklich für alle Zeiten Geltung haben müssen, sei eine dringende Anfrage an den Islam heute und an seine Friedensbereitschaft (54).

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Die rechtliche Stellung der Christen im islamischen Staat nimmt ihren Ausgang bei den Verträgen Muhammads mit den Christen. Auch die ersten Kalifen haben solche Verträge, es handelt sich dabei meist um Unterwerfungsverträge im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen, abgeschlossen. Viele solche Verträge aus der ganzen arabischen Welt werden von Khoury dargestellt. Das bekannteste Dokument ist jenes, das unter dem Namen "'Umar-Abkommen" erwähnt wird. Dieses Dokument hat große Bedeutung, denn Kalif 'Umar ist einer der am häufigsten zitierten Kalifen, deren Verträge und Verhalten als Norm für spätere Rechtsverordnungen und gesetzliche Bestimmungen in bezug auf das Verhältnis zwischen der islamischen Gemeinschaft und ihren nichtmuslimischen Untertanen gelten (85).

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Dabei gilt der Grundsatz der Religionsfreiheit. Die Muslime sollen die Religionsfreiheit der Schriftbesitzer respektieren (Koran: Es gibt keinen Zwang in der Religion: 2, 256). Im allgemeinen war das Zusammenleben von Muslimen und Schriftbesitzern einvernehmlich und durch die Bestimmungen der Verträge gut geregelt. Die Kalifen griffen wenig in die inneren Angelegenheiten der verschiedenen Konfessionen und Religionsgesellschaften ein. Das änderte sich allerdings im Laufe der Zeit.

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In der islamischen Gesellschaft waren die Nichtmuslime später ziemlich ausgegrenzt. Sie wurden aus den öffentlichen Ämtern entfernt. Sie mußten verschiedene Abgaben leisten. Vor allem die Pro-Kopf-Abgaben, Naturallieferungen (von denen Arme befreit werden konnten). Die Schutzbefohlenen wurden wohl auch deswegen gut behandelt, weil sie für den Unterhalt der Muslime sorgten (82). Später gibt es dann gesetzliche Bestimmungen, die viel strenger sind, eine Demütigung der Schutzbefohlenen vorsehen. Tonsuren und bestimmte Zeichen sowie Kleidung waren vorgeschrieben.

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Nicht ganz deutlich wird in dem Buch, ob die Stellung der Schutzbefohlenen sich primär aus dem Abkommen oder primär aus dem Recht des Islam ergab. Es gibt Zeichen der Niederhaltung der Schutzbürger im islamischen Staat. Dabei ist möglich, daß diese Demütigungsvorschriften ein Druckmittel darstellen, um die Schriftbesitzer zur Annahme des Islams zu bewegen (95).

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Eine besondere Frage bestand danrin, was zu geschehen habe, wenn das Schutzabkommen durch die Schutzbefohlenen gebrochen wurde. Die Verletzung des Abkommens konnte Aufhebung des Status als Schutzbefohlener bedeuten. Dies konnte auch zur Hinrichtung führen. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Strafe für Apostasie: Hier wurde und wird heute wieder selbst die Todesstrafe verhängt. In dem Buch geht es vor allem um Muslime, die Christen werden, bzw. zum Islam konvertierte Christen, die zum Christentum zurückkehren, aber auch um Fälle wie den jener Christen, die zum Islam übertreten, um ein bestimmtes Vorhaben zu erreichen, z. B. um die Scheidung von ihrem christlichen Partner zu erreichen. In diesem Fall ist eine Konversion nicht echt und daher ungültig.

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Die Bestimmungen über die Religions- und Kultusfreiheit erinnern an die josephinische Toleranz-Gesetzgebung in Österreich. Ein großes Problem waren die Kultgebäude, ob sie bei Verfall überhaupt renoviert oder wiederhergestellt werden durften.

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Eine heute im Zusammenhang mit dem Islam bestehende Frage, nämlich die nach dem Gesprächspartner auf islamischer Seite, stellte sich für den Islam in der gleichen Weise: Die Wahl des Oberhauptes einer Religionsgemeinschaft lag in der Zuständigkeit der Vertreter der Gemeinden, für die Christen bei den Bischofssynoden. Die islamische Obrigkeit mußte jedoch erst der Kandidatur bzw. der Wahl des neuen Oberhauptes zustimmen und ihm eine Bescheinigung über seine Einführung ins Amt aushändigen. Nach diesen Formalitäten war das neue Oberhaupt dann der Gesprächspartner der islamischen Behörde in allen Fragen, die die Beziehungen zwischen dem Staat und der jeweiligen Religionsgemeinschaft betrafen.

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Nicht alle Kapitel des Buches können im Rahmen einer kurzen Rezension besprochen werden. Man erfährt noch interessante Details über die rechtliche und wirtschaftliche Stellung sowie die Hauptpflichten der Schutzbürger, die Kopf- und die Eigentumssteuer. Es soll aber eines am Schluß festgehalten werden: Mir scheint, daß das Buch die Vorstellung von der allgemeinen Toleranz des Islam gegenüber den Buchreligionen in Frage stellt. Wieso hat das Christentum dann in diesen Gebieten überlebt oder zumindest teilweise überlebt? Ich kann mir die Sache nur so zusammenreimen, daß das Christentum dort, ähnlich wie im Ostblock, letztlich sein Überleben anderen Gründen als religiöser Toleranz verdankt. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag für die heutige Diskussion und ermöglicht es dem interessierten Leser, sich ein umfassendes und abgerundetes Bild über die Stellung der religiösen Minderheiten unter der Herrschaft des Islam zu machen.

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Richard Puza