Welche Rolle spielen die Religionen in Europa?

Italien und Polen als Beispiele

Von Richard Puza

 

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführung
  2. Italien
    1. Einige Bemerkungen zur Geschichte
    2. Das Verhältnis von Kirche und Staat
    3. Beispiel Ehe und Familie
    4. Offene Fragen / Die Diskussion um die Zivilreligion
  3. Polen
    1. Statistische Angaben
    2. Einige Bemerkungen zur Geschichte: Die katholische Kirche vor der Wende
    3. Grundsätzliche Bemerkungen zum Wiederaufbau der Demokratie in den postkommunistischen Ländern
    4. Polen nach der Wende
    5. Die Verfassung von 1997
    6. Die katholische Kirche und das Konkordat von 1993
    7. Fakultative Zivilehe
    8. Religionsunterricht
    9. Schwangerschaftsabbruch
  4. Schluß: Der Einfluß der italienischen Neuregelung auf die polnische
 

 

A. Einführung

 
Die Diskussion um die Europäische Verfassung und den Gottesbezug bzw. Christentumsbezug in deren Präambel ist wohl noch lange nicht zu Ende, während Art. 51 über die Stellung der Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften wohl schon akzeptiert ist. Diese Fragen sollen aber in meinen Ausführungen nicht die erste Rolle spielen. Ich möchte etwas weiter ausholen. Meine Ausführungen werden rechtlicher Art sein.

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Die Rolle der Religionen in Europa soll von aus der Sicht zwei Länder, die meines Erachtens für dieses Thema auf Grund ihrer jeweiligen Situation besonders beispielhaft sind, demonstriert werden: Italien und Polen sprechen,. Ich nenne einige Gründe dafür.

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In beiden Ländern hat die Säkularisierung später eingesetzt, als in den anderen Europäischen Ländern. In Italien seit den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Legislative Höhepunkte in diesem Prozeß waren die Einführung der Ehescheidung 1970 und die Legalisierung der Abtreibung 1978. Beides wurde von der katholischen Kirche bzw. von den Katholiken nicht einfach hingenommen. In Polen setzte die Säkularisierung nach der Wende ein. In beiden Ländern war die katholische Religion bis dahin die dominierende.

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Italien war - und ist bis heute - ein Land mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Das Italienische System des Verhältnisses von Kirche und Staat war das System einer Staatskirche, der katholischen Kirche. Erst ab den achtziger Jahren konnte die Reform des staatlichen Religionsrechtes, bei uns sagt man immer noch Staatskirchenrecht, italienisch diritto ecclesiastico, in Angriff genommen werden. Und sie ist gründlich ausgefallen. Am Anfang steht der Vertrag der Villa Madama, der Accordo von 1984, der das zwischen Pacelli und Mussolini ausgehandelte und mit Pius XI abgeschlossenen Laterankonkordat von 1929 ablöste.

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Auch Polen ist ein Land mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Das polnische System des Verhältnisses von Kirche und Staat war bis zur Wende von marxistisch-leninistischen Vorstellungen und Idealen geprägt. Man sprach von einem System kirchenfeindlicher Trennung von Kirche und Staat in den ehemals kommunistischen Ländern.. Das Verhältnis der katholischen Kirche zum Staat war aber auch durch die besondere Verankerung des Katholizismus im polnischen Volk und die Person des Primas von Polen geprägt: die Kardinäle Hlond, Wyschinski und Glemp. Auch der einstige Erzbischof von Krakau, Kardinal Woytila, der als erster Pole den päpstlichen Stuhl bestiegen hat, ist hier zu nennen. Seine Rolle hin zur Wende und in der Wende wird heute sehr hoch bewertet. Polen war schon vor der Wende und bis in die frühen neunziger Jahre das katholische Musterland schlechthin. Die unangefochtene integrative und regimekritische Rolle der Kirche in der damaligen Volksrepublik Polen hat wesentlich zum gewaltfreien Übergang zu einem demokratischen System beigetragen. Die positive Rolle der römisch-katholischen Kirche im Kampf gegen das totalitäre Regime ist unbestritten. Ihre Eignung und ihr Wille, die vollständige Demokratisierung des politischen Systems nach dem Vorbild der westlichen Industriestaaten mitzutragen, wird von der polnischen Linken jedoch in Frage gestellt. Der mangelnde Wille sollte nicht erstaunen: Demokratisierung nach westlichem Vorbild bedeutete schließlich unter anderem auch Liberalisierung und Säkularisierung der Gesellschaft, also "Abschied vom katholischen Land", wie Philipp Steger auch sein Buch über Polens Kirche nach dem Kommunismus nennt.

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In beiden Ländern sind seit 1984 bzw. 1989 wesentliche Änderungen im Verhältnis von Recht und Religion, Kirche und Staat, eingetreten. Einige sollen zu Beginn gleich genannt werden:

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In Italien ist die katholische Kirche nicht mehr Staatskirche. Mit einer ganz beachtlichen Reihe von weiteren Religionsgemeinschaften (Ziffer) sind Vereinbarungen, sog. intese (agreements) abgeschlossen worden, die durchaus vom Grundsatz der paritätischer Behandlung religiöser Denominationen, nicht der Weltanschauungen, ausgehen. Zu nennen sind: als erstes die Waldenser,1 mit denen schon parallel zum Accordo verhandelt wurde. Neu geregelt wurde das Kirchenfinanzierungssystem, umgestellt wurden das Klerikerbesoldungsrecht, zum Teil neu geregelt wurde das Eherecht unter Beibehaltung des Systems der fakultativen Zivilehe .

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Die Polnische Verfassung geht heute von der Religionsfreiheit aus, die nicht nur individuell, sondern auch korporativ verstanden wird, also nicht nur Einzelpersonen zukommt. Die Parität der religiösen Denominationen ist garantiert. Der Regelung der Beziehungen dient [eigentlich: Die Verhältnisse zwischen den religiösen Denominationen und dem Staat] bei der katholischen Kirche ein mit dem Hl. Stuhl abgeschlossener Vertrag, das Konkordat, bei den anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften (Sobanski: Konfessionsgemeinschaften) ein Gesetz und/oder Vertrag. Auch Polen kennt inzwischen mehrer solche Vereinbarungen. Die Katholische Kirche, besonders die Amtskirche (oder Kleruskirche), hat nach der Wende viel an Position verloren. Mit dem Konkordat, das zusammen mit dem italienischen Accordo von 1994 Tendenzen vatikanischer Diplomatie erkennen läßt (Puza), wurde, verbunden mit der neuen Verfassung (Text), und einer Reihe auf Grund der Verfassung erlassener Gesetze, die auf vorhergehenden Vereinbarungen beruhen, ein dem italienischen in Teilen ähnliches System des Verhältnisses von Kirche und Staat geschaffen. Das gilt auch für einzelne inhaltliche Regelungen.

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Gehört Italien zu den Gründungsmitgliedern der EWG, so wird Polen im Mai dieses Jahres Vollmitglied der EU sein. Italien stellte bisher den Kommissionspräsidenten Prodi und hatte bis zum 31.12.03 die Ratspräsidentschaft inne.

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Polen hat sich in den Verhandlungen um die Europäische Verfassung als starker Partner erwiesen und zusammen mit Spanien eine sofortige Verabschiedung der EU-Verfassung verhindert. Auch das Verhältnis zum Nachbarn Deutschland ist nicht zuletzt deshalb zur Zeit getrübt. In der Diskussion um die, mit dem Entstehen der EU als politischer Union verbundenen, neu auftretenden Fragestellungen im Verhältnis von Kirche und Staat [Arbeit des Verfassungskonventes] hatte Polens Verfassung plötzlich Vorbildcharakter, als es um den Gottesbezug und den Bezug auf das religiöse Erbe ging.

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Triebel hat in der Internet-Zeitschrift NomoK@non2 die Redebeiträge der einzelnen Mitglieder des Verfassungskonvents zur Präambel und zum Kirchenartikel dargestellt. In der Präambel sollte nach Auffassung des italienischen Mitgliedes Fini (Regierung, Italien) die jüdisch-christliche Tradition als Element der europäischen Identität aufgenommen werden. Dies verstoße nicht gegen die Laizität der europäischen Institutionen. Der Ministerpräsiden von Baden-Württemberg, Dr. Erwin Teufel (Parlament, Deutschland) nahm auf den Text der polnischen Verfassung Bezug. Wie dort (Zitat) sollte die europäische Verfassung für die Gläubigen einen Bezug zu Gott als Quelle universeller Werte enthalten, gleichzeitig aber zum Ausdruck bringen, dass viele Menschen diese Wertvorstellungen aus anderen Quellen ableiten. Schließlich sollte auch die rechtliche Stellung der Kirchen als Teil der nationalen Identität klar zum Ausdruck gebracht werden.

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Auch (Tajani) (Europaparlament) sprach sich für eine Erwähnung der religiösen Dimension, etwa in Form der Formulierung der Präambel der polnischen Verfassung, aus. Dies verstoße nicht gegen die Trennung von Staat und Kirche, auch die Verfassungen Deutschlands, Irlands, der Schweiz, Polens und der USA würdigten die religiöse Dimension (zitieren). Ferner sei auf die Bedeutung der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften hinzuweisen. Der polnische Abgeordnete Wittbrodt (Parlament, Polen), meinte, daß neben der nationalen Identität die verfassungsrechtliche und politische Struktur der Mitgliedstaaten einschließlich der rechtlichen Stellung von Kirchen und Religionsgemeinschaften geachtet werden müssen, und berief sich dabei auf eine entsprechende Forderung der COMECE. In der Debatte vom 11. Juni 2003 über den neuen Präambelentwurf des Präsidiums bedauerten sowohl Tajani (Europaparlament) wie auch Teufel (Parlament, Deutschland), dass sich die Präambel nicht auf die fundamentale Bedeutung des Christentums für Europa bezieht. In der Debatte vom 12. Juni bedauerte Wittbrodt (Parlament, Polen) den fehlenden Bezug auf das Christentum als Wurzel Europas. Die Gründerväter Europas seien Christen gewesen.

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B. Italien

 

I. Einige Bemerkungen zur Geschichte

 
Mit den den Lateranverträgen von 1929, hatte die katholische Kirche nicht nur eine starke und privilegierte Position, sondern auch soziale Bedeutung in Staat und Gesellschaft erlangt. Nach dem Fall des Faschismus und nach vierzig Jahren Vorherrschaft einer katholischen Partei wurde die katholische Kirche zu einem politischen Subjekt ersten Ranges, das auch in der politischen Welt und in der italienischen Gesellschaft Bedeutung hat (Muselli). Die ändert sich mit der in den siebziger Jahren beginnenden Säkularisierung, deren Höhepunkte Referenden über die Scheidung (1974) und die Abtreibung (1978) waren. Die Revision des Konkordats (1984) bedeutete das Ende des Prinzips der Staatsreligion. Mit dem Abschluß der ersten Verträgen mit nichtkatholischen Religionsgemeinschaften (ab 1985) beginnen auch andere Religionen institutionellen Charakter anzunehmen. Der Höhepunkt der Säkularisierung ist wohl durch die Rechtssprechung der Corte Costituzionale erreicht, die die Gleichbehandlung aller Religionen unter strafrechtlichem Gesichtspunkt verlang. Die Geltung der Artikel des Strafgesetzbuches über die Beschimpfung und über den privilegierten Schutz der katholischen Religion sind weggefallen, das Verbrechen der Gotteslästerung wurde entpoenalisiert und ist nur noch mit Verwaltungsstrafe belegt. Verbunden damit ist das Zurückgehen religiöser Praxis und die fortlaufende Abnahme der religiös geschlossenen Ehen gegenüber den zivil abgeschlossenen Ehen, die inzwischen auf 30 Prozent der Eheschließungen gestiegen sind. Diese Säkularisierung am Ende des Jahrtausends hat allerdings noch nicht das Familienrecht erfaßt. Der Einfluss der Religion und eine gewisse Bindung an feststehende Traditionen und Rechtsinstitute hat bislang noch die gesetzliche Anerkennung von Ehen Homosexueller und von Konkubinaten verhindert, wie sie in anderen europäischen Staaten längst gegeben ist.

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Im Gegensatz dazu wurde aber auch für den Beginn dieses Jahrhunderts ein Wiedererwachen der Aufmerksamkeit für das religiöse Faktum und seine Symbolik festgestellt. Genannt wurden die Reden des Papstes, die Domgespräche des seinerzeitigen Erzbischofs von Milano, Kardinal Martini, der sich auch an die Nichtglaubenden wendete, und das Faktum, daß in manchen Räumlichkeiten öffentlicher Gebäude der örtlichen Verwaltung Kruzifixe aufgehängt wurden, so z. B. in den Amtsräumen der Provinzialverwaltung von Pavia (Musselli). Von größerer Bedeutung ist hier Art. 9 der Verfassung (Accordo 1984?) über den katholischen Religionsunterricht, in dem vom "Wert" der religiösen Kultur die Rede ist und in dem der Tatsache Rechnung getragen wird, daß die Prinzipien des Katholizismus Teil des historischen Erbes des italienischen Volkes sind. Auf diesen Text bezieht man sich, um beispielsweise das Aufhängen von Kruzifixen in Schulräumen zu rechtfertigen.3

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Die Regierungsparteien, nun von Mitte-Rechts, behandeln die katholische Kirche unterschiedlich; hingegen hat der Papst im italienischen Parlament eine historische Ansprache gehalten. Das Pendel hat aber wieder umgeschlagen. Auch Italien hat seit Herbst vergangenen Jahres seinen Kruzifixstreit.

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Jenseits der Normen verleiht die massive Aktivität der "statistisch vorherrschenden Religion" im sozialen Bereich dieser eine Stärke und eine faktische Legitimation, die andere Religionsgemeinschaften nicht haben.

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II. Das Verhältnis von Kirche und Staat

 
Das Verhältnis von Kirchen und Staat in Italien ist heute gekennzeichnet durch das Grund- und Menschenrecht der Religionsfreiheit, auch als korporatives Recht der Kirchen, die Neutralität des Staates in Religionsdingen, eine gestufte Parität der Religionsgemeinschaften und ein Vorherrschen des Vertragsgedankens in der Regelung der Beziehungen. Letzteres ist geradezu ein Charakteristikum der heutigen religionsrechtlichen Situation in Italien. Der Staat ist dem Religiösen gegenüber neutral, was aber weder Laizismus noch Agnostizismus. Die italienische Laizität des Staates ist keine echte Form der Trennung.

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Seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich in Italien ein System von Vereinbarungen (Vereinbarungsreligionsrecht) zwischen dem italienischen Staat und den nichtkatholischen Konfessionen nach Art. 8 der Verfassung.

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So sind heute die Beziehungen mit den Waldensern, Juden, Lutheranern, Baptisten, Pfingstlern und Adventisten vertraglich geregelt. Darüber hinaus sind Vereinbarungen, die noch nicht in Gesetze umgewandelt sind, mit den Zeugen Jehovas, und mit einer Gemeinschaft von außereuropäischer und außerchristlicher Herkunft, der Union der Buddhisten Italiens, geschlossen worden. Seit Jahren besteht eine lebhafte Polemik über die Möglichkeit, einer Vereinbarung mit dem Islam, unterstützt von bekannten Politikern, wie Giulio Amdreotti. Neben dem Problem der Vereinbarungen gibt es jenes der Ablösung des alten Gesetzes über die nichtkatholischen Kulte vom 24. Juni 1929.

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Eine Frage ist, wie weit die Pflichten reichen, die dem Staat aus dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Laizität erwachsen. Weder vollständige Gleichbehandlung der Konfessionen noch Vereinbarungen für alle Konfessionen lassen sich daraus ableiten. Mit dem neuen Gesetz über die Religionsfreiheit lassen sich mehr oder weniger homogene juristische Regeln realisieren, die aber nicht für alle Konfessionen gleich sind. Auch ist nicht daran zu denken, dass das Prinzip der Laizität zu einer "sterilisierten" und für jeden religiösen Einfluss undurchdringlichen sozialen Sphäre führt.

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III. Beispiel Ehe und Familie

 
Ein wichtiger Sektor, in dem die Religion eine Rolle spielt, ist die bürgerlich-rechtliche Anerkennung der religiös geschlossenen Ehen und der kirchlichen Ehenichtigkeitsurteile aufgrund von Art. 8 des Konkordats.

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IV. Offene Fragen / Die Diskussion um die Zivilreligion

 
1. Trotz der Säkularisierung Italiens sind verschiedene Sektoren des Einflusses der Religion und besonders der katholischen Religion im Wachsen begriffen. Daraus erwachsene Regulierungsdefizite bestehen z.b. bei der künstlichen Befruchtung und der Genmanipulation. Die Stellungnahme des Papstes und der Bischöfe wird von den Zentrumsparteien (in der Regierungskoalition sind auch katholische Parteien) mit Aufmerksamkeit beachtet und gewöhnlich auch wohlwollend aufgenommen. Dasselbe gilt für die Liga Nord, eine Regierungspartei, die vor einiger Zeit angesichts der Immigration des Islam im Bereich des Religiösen typisch traditionalistische und die christlichen Werte verteidigende Positionen eingenommen hat. Die verfassungsrechtliche Bejahung des Prinzips der Laizität in dem vom italienischen Verfassungshof angenommenen Sinn verhindert nicht eine besondere Behandlung der Mehrheitsreligion und eine gleich exzessive Öffnung gegenüber den neuen Religionen und Kulturen (insbesondere gegenüber dem Islam). So geht man mancherorts so weit, die Jahrhunderte langen christlichen Traditionen in den Kindergärten, wie z.B. die Feier von Weihnachten oder die Aufstellung der Krippe, zu unterbrechen, um nicht die religiösen Gefühle Einzelner, vor allem von Muslimen, zu verletzen. Und dennoch ist das christliche Element in der italienischen Gesellschaft stärker, als es auf den ersten Blick scheinen mag; dies findet seinen Ausdruck in den letzten Jahren besonders auf der institutionellen Ebene mit der Neuregelung der Privatschule, die nun auch einige Regionen kennen, wie etwa die Lombardei, in denen die größtenteils katholischen Privatschulen und damit die von diesen profitierenden Familien unterstützt werden. Alle diese Fakten, auch das Wiederaufleben des Interesses an neuen Kulten, zeigen, dass in der italienischen Gesellschaft ein Interesse für das Heilige und die Religion neu erwacht ist. Es fehlt aber noch ein Bewußtsein, das man bilden könnte und müßte, daß nämlich aus den Prinzipien des Christentums in einem ökumenischen Geist interessante Prinzipien und Modelle für das zivile und politische Leben abgeleitet werden können, eine Idee, die am Ursprung einiger Konzeptionen von "Zivilreligion" steht.

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2. Auf die eben angesprochen Thematik der Zivilreligion als einer Gesamtheit von Grundprinzipien und Grundwerten, auf denen die Gesellschaft aufbaut, und über die in Italien eine breite Debatte im Gange ist, kann hier nur hingewiesen werden. (s. das Themenheft der ThQ mit demselben Titel).

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C. Polen

 

I. Statistische Angaben

 
38.365.000 Einwohner, 98,7 % der Einwohner sind Polen. Daneben gibt es nationale Minderheiten: 180.000 Ukrainer, 170.000 Weißrussen, 100.000 bis 200.000 Deutsche, 21.000 Slowaken, 19.000 Russen, 12.000 Sinti und Roma, 10.000 Litauer, 5.000 Griechen, 2.000 Tschechen. 97 %, nach anderen Angaben 95 % der Bevölkerung ist römisch-katholisch. Weiter gibt es: 573.200 Russisch-Orthodoxe, 267.700 Protestanten, 80.200 Altkatholiken; ferner rund 5.200 Muslime, 17.000 Buddisten und 1.300 Juden. Die Hauptstadt ist Warschau mit 1.644.500 Einwohnern.

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II. Einige Bemerkungen zur Geschichte: Die katholische Kirche vor der Wende

 
Die Rechtslage der römisch-katholischen Kirche und ihr Verhältnis zum Staat wurde 1925 durch das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl und die dazu erlassenen Durchführungsbestimmungen geregelt. 1945 wurde das Konkordat durch die Regierung der nationalen Einheit mit dem Vorwurf der Vertragsverletzung durch den Heiligen Stuhl während des Krieges einseitig für ungültig erklärt. Nach der Ungültigkeitserklärung des Konkordats blieb die Rechtslage der römisch-katholischen Kirche und ihr Verhältnis zum Staat im wesentlichen ungeregelt. Nur einzelne Angelegenheiten wurden durch staatliche Normen geordnet. 1950 wurde eine Vereinbarung zwischen Vertretern des Episkopats und der Regierung abgeschlossen und 1956 ein "Communique" der gemeinsamen Kommission des Episkopats und der Regierung verlautbart. Der kirchliche Grundbesitz wurde durch Gesetz 1950 verstaatlicht. Die Haupteinnahmequellen der Kirche waren die Stolgebühren und die Kollekten.

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In den Jahren der kommunistischen Herrschaft war die katholische Kirche die einzige Institution, die trotz der Verfolgungen durch den Staat ihre Selbständigkeit bewahrte. Daher fand sie die Zustimmung fast all derer, die zum Regime aktiv oder passiv in Opposition standen. Ein Symbol für diesen Widerstand war die Haltung des Primas, Kardinal Stefan Wyszynski (bis 1981).

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III. Grundsätzliche Bemerkungen zum Wiederaufbau der Demokratie in den postkommunistischen Ländern

 
Nach der Wende mußte in den postkommunistischen Ländern die Demokratie neu aufgebaut werden, damit zusammenhängend auch ein neues System des Verhältnisses von Kirche und Staat. Nach Silvio Ferrari standen zwei Möglichkeiten zur Disposition: das System der USA und das westeuropäische System. Die postkommunistischen Länder haben sich für letzteres mit verschiedenen Varianten entschieden.

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Das neu entstandene Gesetzgebungskorpus (legal framework) ist auf drei Ebenen angesiedelt: Verfassung - Gesetze - Vereinbarungen. Die Verfassungen enthalten - wie alle liberalen, demokratischen - zwei bemerkenswerte Aussagen, die Garantie von Religions- und Kultusfreiheit und das Verhältnis von religiösen Denominationen zum Staat betreffende Regelungen. So auch die polnische Verfassung von 2. April 1997. Einige Verfassungen, und dazu zählt auch die polnische, kennen auch Grenzen oder Schranken der freien Ausübung dieser Rechte.

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In einigen Staaten wurden rechtliche Formen der Kooperation eingerichtet, so in Ungarn, Kroatien und Polen. Besondere Gesetze zur Registrierung von Religionsgemeinschaften existieren in Bulgarien, Rußland, , Lettland, Litauen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen.

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Daß die Kirchen in den kommunistischen Ländern eine Oppositionsrolle gespielt haben, kann einzelne gesetzliche und regulative Maßnahmen nach der Wende erklären. Dabei war die Rolle der Kirchen nicht uniform, es gab auch unterschiedliche Situationen. Eines aber steht fest, wer immer sich in Opposition befand, konnte nach der Wende eine Rolle im Demokratisierungsprozeß bilden. Beispiel können Länder sein, mit denen die katholische Kirche eine Konkordatspolitik, wie in Polen durchgesetzt hat.

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IV. Polen nach der Wende

 
Die Wende in Polen wurde eingeleitet durch die Wahlen 1989, am 4. Juni. Die Niederlage der Kommunisten war ein Wendepunkt nicht nur für Staat und Gesellschaft, sondern auch für die Kirche. Jetzt war sie nicht mehr der einzige Ort, an dem sich alle Aktivitäten entfalten konnten, die mit dem Regime nicht konform gingen. Viele schlossen sich nun der wieder legal gewordenen Solidarnosc oder den Bürgerkommitees von Lech Walesa oder anderen Organisationen an.

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Die Regierung des Premierministers Thadeusz Mazowiecki hat eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die das Verhältnis von Kirche und Staat betrafen. Zu nennen sind die Einführung des Religionsunterrichts in den Schulen und das Gesetz zur Rückgabe beschlagnahmten kirchlichen Vermögens. Die Rückgabe des kirchlichen Eigentums beeinträchtigte deutlich das Ansehen der Kirche. Daher verzichtete die Kirche auf die Rückforderung des ehemaligen kirchlichen Eigentums und begnügte sich mit der formellen Übernahme der Gebäude als Eigentum, überließ sie aber den bisherigen Benützern für eine symbolische Gebühr zur weiteren Verwendung.

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Was das institutionelle Verhältnis von Kirche und Staat betrifft, so sind 1989, noch vor der Wende, ein Gesetz über das Verhältnis des Staates zur katholischen Kirche, ein Gesetz über Gewissens- und Bekenntnisfreiheit und ein Gesetz über die Sozialversicherung (Pflichtversicherung) der 62.000 Geistlichen aller Religionsgemeinschaften erlassen worden. Das Rechtstatut der katholischen Kirche ist Ergebnis der jahrelangen Verhandlungen zwischen der Regierung und der katholischen Kirche. Dieses Gesetz fällt noch in die Zeit vor der Wende. Mit diesem Gesetz wurde der römisch-katholischen Kirche ein rechtlich fixierter Status, den sie bisher, anders als die übrigen nichtkatholischen Glaubensgemeinschaften, nicht besessen hatte, zuerkannt. In diesem Gesetz heißt es nun, daß die römisch-katholische Kirche ihre Tätigkeit "im Rahmen der Verfassung der Volksrepublik Polen ausübe" und sich nach eigenem, kanonischem Recht verwalte. Garantiert wurde die religiöse Unterweisung und die Seelsorge außerhalb von Kirchenräumen (Gefängnisse, Krankenhäuser), die Caritas wurde als kircheneigene Organisation zugelassen.

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Auf Grund dieser Gesetze entstanden (noch zur Zeit der Solidarnosc-Regierungen) viele Kirchen, die den Charakter von Sekten und kleinen Glaubensgemeinschaften haben.

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Nach der Wende entstand so ein breiterer Freiheitsraum für die katholische Kirche. Administrativen Repressionen, denen sie zur Zeit des Kommunismus ausgesetzt war, hörten auf. Es begann aber - aus der Sicht der Hierarchie - ein propagandistischer Kampf gegen religiöse Werte.

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V. Die Verfassung von 1997

 
Die Verfassung wurde am 02.04 1997 beschlossen. Grundlegend für das Verhältnis von Kirche und Staat ist Art. 25. Demnach sind die Konfessionsgemeinschaften grpndsätzlich gleichberechtigt. Die öffentlichen Behörden sind zur Neutralität in Angelegenheiten der religiösen, weltanschaulichen und philosophischen Überzeugungen verpflichtet und sichern die Freiheit ihrer Ausübung im öffentlichen Leben. Die Regelung der Verhältnisse zwischen den Kirchen sowie anderen Konfessionsgemeinschaften und dem Staat und deren Zusammenwirken für das Wohl der Menschen und das Gemeinwohl erfolgt auf der Basis der Prinzipien der Achtung ihrer Unabhängigkeit eines jeden in seinem Bereich. Für die katholische Kirche werden diese Verhältnisse durch ein mit dem Apostolischen Stuhl abgeschlossenes Konkordat geregelt, für die anderen Kirchen und Konfessionsgemeinschaften durch Gesetze und Verträge bestimmt, die zwischen der Regierung und den Vertretern der Kirchen abgeschlossen werden.

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Die ratifizierten internationalen Verträge sind Bestandteil der polnischen Rechtsordnung. Auch das von den internationalen und supranationalen Organisationen beschlossene Recht findet in Polen direkte Anwendung, falls der von diesen Organisationen konstituierte Vertrag von der Republik Polen ratifiziert wurde.

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Gewissens- und Religionsfreiheit werden garantiert. Letztere umfaßt auch die den Besitz von Gotteshäusern und anderer Kultstätten.

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Der Polnische Staat anerkennt die Rolle und Bedeutung der Kirchen und Konfessionsgemeinschaften. Inzwischen sind elf Gesetze, die das Verhältnis des Staates zu Kirchen- und Konfessionsgemeinschaften regeln, erlassen worden.

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VI. Die katholische Kirche und das Konkordat von 1993

 
1. Mit der Unterzeichnung eines neuen Konkordates am 28. Juli 1993 zwischen dem Apostolischen Stuhl und der Republik Polen schien das vorläufige Ringen zwischen den beiden Institutionen um die beiderseitigen Beziehungen ein vorläufiges Ende zu finden. Um in Kraft treten zu können, bedurfte es aber noch der Zustimmung des Sejms zur Ratifikation durch den Staatspräsidenten. Und die ließ auf sich warten. Die Gründe können hier nicht weiter dargestellt werden.

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2. Der Vertrag ist aus mehrfachen Gründen interessant. Ich möchte ein paar Punkte herausgreifen:

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a. In der Präambel werden als Basis der Vereinbarung die Dokumente des 2. Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit und die Beziehungen zwischen der Kirche und der politischen Gemeinschaft und die Verfassungsprinzipien des polnischen Staates genannt. Daraus ergibt sich also Autonomie und Kooperation. Alle Anklänge an das, was der kommunistische Staat in der Vergangenheit Trennung von Staat und Kirche nannte - wobei es ihm dabei weniger um die beiderseitige einvernehmliche Beachtung der unterschiedlichen Zuständigkeitsbereiche ging, als um die Beschneidung der herausragenden gesellschaftlichen Stellung der katholischen Kirche im Lande, werden vermieden.

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b. Das Konkordat enthält eine Reihe typischer Materien, wie man sie auch in anderen Konkordaten findet, allerdings in etwas unkonventioneller Reihenfolge: Freiheit des Kontaktes mit dem Heiligen Stuhl (Art. 3), Rechtspersönlichkeit der katholischen Kirche und der kirchlichen Einrichtungen (Art. 4), Garantie der freien und öffentlichen Ausübung der kirchlichen Sendung (Art. 5), Kultusfreiheit (Art. 8), Festlegung der kirchlichen Staats-Feiertage (Art. 9), Recht auf eigene Schulen, ausgestattet mit gleichen Rechten wie öffentliche Schulen, Erziehungseinrichtungen und Katholisch-Theologische Fakultäten in den staatlichen Universitäten (Artikel 15). An der Universität in Oppeln ist die erste theologische Fakultät an einer staatlichen Hochschule des Landes wiedereröffnet worden. Die Finanzierung des Studienbetriebs wird gemeinsam von der Kirche und dem polnischen Staat übernommen. Inzwischen sind auch an anderen staatlichen Universitäten, wie Krakau und Warschau, solche Fakultäten wieder eröffnet worden.

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c. Die vermögensrechtlichen Fragen wurden einer eigenen gemischten Kommission zur Behandlung überlassen (Art. 22 Abs. 2). Die Kirche unterhält sich in Polen zur Zeit fast ausschließlich aus den freiwilligen Spenden der Gläubigen und aus den Stolgebühren. Die Kirche erhält auch kaum finanzielle Unterstützung von Seiten des Staates. Die kirchlichen Einrichtungen sorgen größtenteils selbst für die kirchlichen Baudenkmäler. Der Staat gewährt nur wenig Unterstützung. Im Konkordat ist die Subventionierung von Schulen (Art. 14 Abs. 4), von höheren Schulen (Art. 15. Abs. 3) und von Kunstdenkmalen (Art. 22 Abs. 4) vorgesehen.

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d. Weitere Konkordatsmaterien sind: Die Militärseelsorge (Art. 16), die Anstaltsseelsorge (Art. 17), die Garantie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Gläubigen (Art. 19) sowie die Garantie der Pressefreiheit und des Rechtes, Radio- und Fernsehprogramme zu senden (Art. 20).Im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen gibt es zur Zeit eine Redaktion für katholische Sendungen, die den kirchlichen Behörden untersteht. Wöchentlich werden mehrere Sendungen ausgestrahlt. Einige kirchliche juristische Personen besitzen eigene Rundfunkstationen. Es gibt aber noch keine kirchlichen Fernsehstationen (?). Dazu kommen der Schutz kirchlichen Eigentums (Art. 23, 24) und der Denkmalschutz (Art. 25).

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e. Artikel 6 garantiert, das freie Recht der Kirche, die diözesanen und kirchlichen Strukturen zu regeln. Die kirchlichen Ämter werden von der zuständigen kirchlichen Autorität gemäß den Normen des kirchlichen Rechts verliehen. Die politische Klausel bei der Bischofsernennung gibt es nicht, wohl aber die Verpflichtung der Kirche, vor Ernennung eines Diözesanbischofs den Namen vertraulich, innerhalb ausreichender Zeit, der Regierung der polnischen Republik mitzuteilen.

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VII. Fakultative Zivilehe

 
Polen ist von der obligatorischen zur fakultativen Zivileheschließung übergegangen. Schon in Art. 11 des Konkordates bekunden die vertragschließenden Parteien ihre gemeinsame Entschlossenheit, "Ehe und Familie" als "Fundament des Staates" zu stärken und zu fördern. Gemäß Art. 10 soll die fakultative Zivileheschließung eingeführt werden.

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Das im Konkordat vorgesehene System ist ähnlich dem in Italien. Die kirchliche Eheschließung muß, damit sie bürgerlich-rechtliche Wirkungen erlangt, in die zivilen Register eingetragen werden. Der Pfarrer muß bei der Vorbereitung der Feier der Eheschließung die zukünftigen Eheleute über die entsprechenden Regeln des polnischen Zivilrechtes informieren. Wenn die Neuverheirateten außerdem bei der Eheschließung gemeinsam zum Ausdruck bringen, daß diese auch Wirkungen gemäß den polnischen Gesetzen haben soll, und wenn keine staatlichen Ehehindernisse entgegenstehen, hat die Ehe bürgerlich-rechtliche Wirkungen vom Zeitpunkt der Feier der Eheschließung an.

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In der ausschließlichen Kompetenz der kirchlichen Autorität steht es, über die Gültigkeit einer Ehe zu entscheiden. Das gleiche gilt für die übrigen im Kirchenrecht vorgesehenen Eheauflösungs-und Ehetrennungsverfahren. Über die bürgerlich-rechtlichen Wirkungen der Ehe entscheiden ausschließlich die staatlichen Gerichte. Das Verfahren der staatlichen Anerkennung der kirchlichen Entscheidungen ist weiteren Verträgen oder Vereinbarungen zwischen der Regierung und der polnischen Bischofskonferenz, die durch den Heiligen Stuhl autorisiert sein muß, vorbehalten (Verweis auf Art. 27). Der polnische Staat hat seine Gesetzgebung entsprechend geändert.

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VIII. Religionsunterricht

 
Der Religionsunterricht soll zwar an den öffentlichen Schulen stattfinden, der Zugang ist aber freiwillig ist. Seit September 1990 findet an allen öffentlichen Schulen (Grundschulen und weiterführenden Schulen) Religionsunterricht statt. Der Unterricht wird von der Schule organisiert, die Religionslehrer - mit Ausnahme der Priester - werden von der Schule finanziert. Auf ihrer Vollversammlung im Mai 1989 forderten die katholischen Bischöfe Polens die volle Rückkehr des Religionsunterrichts an den Schulen und zu diesem Zweck eine Garantie in der Verfassung und in dem Gesetz über nationale Erziehung. Am 2. August hat das Erziehungsministerium per Erlaß die Rückkehr des Religionsunterrichts in die Schulen zum 1. September verfügt. Die Übereinkunft trug die Handschrift des Episkopats, denn der Kirche wurde die allgemeine Bestimmung über den Lehrinhalt zugestanden. Die Instruktion betreffend der Rückkehr des Religionsunterrichts in die Schule im Schuljahr 1991/92 war von der gemeinsamen Kommission zwischen Kirche und Regierung ausgearbeitet worden. Die Lehrinhalte werden den Unterrichtsbehörden nur zur Kenntnis gebracht, Lehrer vom jeweiligen Bischof eingesetzt und abberufen. Angesichts des Fehlens von Religionslehrern wurde der Religionsunterricht praktisch allein von Priestern gegeben.

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Die Einführung des Religionsunterrichts und auch die Weise der Einführung durch Dekret, nicht durch Gesetz, löste den Protest eines Teils der Gesellschaft aus, die von Machtmißbrauch sprach und auf die Schwierigkeiten hinwies, die der Religionsunterricht in den überfüllten Schulen verursachen würde, während die in den Vorjahren mit gesellschaftlichen Mitteln erbauten Pfarrgemeindehäuser ungenutzt bleiben würden. Man stritt, diskutierte und klagte über die Kosten, nämlich die Besoldung der Katecheten, die der polnische Staat jetzt bestreiten mußte. Erst nach ein bis zwei Jahren beruhigten sich die Gemüter und beide Seiten paßten sich der neuen Situation an.

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IX. Schwangerschaftsabbruch

 
Ab 1956 war in Polen der Schwangerschaftsabbruch liberal geregelt. Ein Abbruch aus sozialen Gründen war erlaubt und wurde an öffentlichen Spitälern kostenlos durchgeführt. Familienplanung wurde hingegen vom Staat kaum gefördert und war für viele Polinnen schwer zugänglich. Schwangerschaftsabbruch war daher eine gebräuchliche Methode der Geburtenregelung.

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Nach dem Niedergang des kommunistischen Regimes wurde 1993, unter dem erstarkten Einfluss der katholischen Kirche, der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch gesetzlich radikal eingeschränkt. 1994 verhinderte der damalige Präsident Walensa mit seinem Veto die vom neu zusammengesetzten Parlament beschlossene Rückkehr zu einem liberalen Gesetz. Nach seiner Abwahl konnte sich das Parlament durchsetzen, doch wurde die beschlossene Revision 1997 vom konservativen Verfassungsgericht ungültig erklärt. So ist seit 1998 der Schwangerschaftsabbruch wieder nur aus streng medizinischen Gründen sowie wegen Vergewaltigung oder Missbildung des Fötus erlaubt.

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Seitdem sind Frauen in den Untergrund gedrängt. Gemäss einem Bericht der polnischen "Föderation für Frauen und Familienplanung" müssen die illegalen Abtreibungen auf mindestens 80'000 bis 200'000 geschätzt werden. Betrug die Zahl der registrierten Abbrüche vor 1990 über 100'000 pro Jahr, so sank sie bis 1999 auf gerade noch 151. Oft erhalten nicht einmal Frauen mit gravierenden medizinischen Problemen die Erlaubnis zum Abbruch. Viele öffentliche Spitäler verweigern jeglichen (auch legalen) Eingriff.

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Die "Föderation für Frauen und Familienplanung" hat 1999 mit breit angelegten wissenschaftlich durchgeführten Befragungen von Ärzten, Pflegepersonal und Frauen die Auswirkungen des Abtreibungsverbotes erforscht. In ihrem Forschungsbericht kommt sie zum Schluss, dass es in Polen einen florierenden "schwarzen Markt der Abtreibung" gibt und dass die Zahl der illegalen Eingriffe mit mindestens 80'000 zu beziffern ist, was annähernd der Zahl der Abbrüche vor 1990 entspricht.

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1 % der 210 befragten Frauen gaben eine Abtreibung im vergangenen Jahr zu. Hochgerechnet auf das ganze Land ergäbe dies rund 90'000 Abtreibungen, bei einer Geburtenzahl von 400'000.

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Es ist allgemein bekannt, dass an Privatkliniken und in Praxen illegal Abtreibungen durchgeführt werden, zum Teil zu Wucherpreisen. Frauen, die es sich leisten können, fahren auch ins Ausland: Russland, Deutschland oder auch Holland, wo allein mehrere 100 Polinnen behandelt wurden.

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Vielfach werden auch Laien- oder Selbstabtreibungen vorgenommen, wenn das Geld für die Privatklinik fehlt. Den meisten der befragten Krankenschwestern waren Fälle von Komplikationen aus solchen nicht professionellen Eingriffen bekannt.

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Die Zahl der nach der Geburt im Spital zurückgelassenen Kinder hat sich von 252 im Jahr 1993 auf 737 im Jahr 1999 fast verdreifacht.

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Die Geburtenrate ist - entgegen der Hoffnung der Regierung - nicht gestiegen, sondern weiter gesunken und gehört mit 1,34 Kindern pro Frau heute zu den niedrigsten in ganz Europa.

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D. Schluß: Der Einfluß der italienischen Neuregelung auf die polnische

 
Polen hat sich grundsätzlich für das westeuropäische System des Verhältnisses von Staat und Religion entschieden. Ist dabei aber durchaus seinen eigenen Weg gegangen.

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Ein Vergleich mit dem italienischen Konkordat von 1984 läßt gewisse Parallelen erkennen. Die Dekrete des 2. Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit und die Beziehungen zwischen der Kirche und der politischen Gemeinschaft stehen in beiden Ländern an der Basis ihrer Beziehungen.

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Gemeinsamkeiten bestehen im Bereich der Kooperation, wo auf Grund der Verfassungen die Möglichkeit zum Abschluß von Vereinbarungen auch mit kleineren Religionsgemeinschaften geschaffen und inzwischen auch durchgeführt wurde.

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Das in Italien bestehende System der fakultativen Zivileheschließung wurde inzwischen auch in Polen eingeführt. Polen hat damit eindrucksvoll vorgeführt, daß dieser Übergang machbar ist.

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Die vermögensrechtlichen Fragen wurden einer eigenen gemischten Kommission zur Behandlung überlassen. Die Frage der Kirchenfinanzierung ist in Polen aber durchaus eigenständig geregelt.

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1 Vereinbarungen mit der Waldensischen Kirche, mit der jüdischen Gemeinschaft, mit der Adventistischen Kirche, mit der baptistischen Kirche, mit der Lutherischen Kirche. Zur Zeit werden Diskussionen geführt, um Vereinbarungen mit folgenden Religionsgemeinschaften zu schliessen: mit der Kirche der Mormonen, mit der apostolischen Kirche Italiens, mit der buddhistischen und hinduistischen Religionsgemeinschaft.

2 Matthias Triebel, Religion und Religionsgemeinschaften im künftigen Europäischen Verfassungsvertrag. Die Debatten des Europäischen Konvents, http://www.nomokanon.de/abhandlungen/014.htm.

3 Das Aufhängen von Kreuzen in den Schulen wurde nach dem Ende der liberalen Periode mit dem Aufkommen des Faschismus eingeführt, und zwar mit Zirkular des Unterrichtsministers vom 22. November 1922 und dann durch Art. 118 des königlichen Dekretes vom 30. April 1924 Nr. 965, wo zu lesen ist: "Jede Einrichtung hat die nationale Flagge, jede Klasse das Bild des Kruzifixes und das Bildnis des Königs". Das Bildnis des Königs wurde durch das des Präsidenten der Republik ersetzt, auch wenn in der Praxis das Bild des Staatsoberhauptes oft gar nicht wirklich aufgehängt wird. Die Verpflichtung zum Aufhängen des Kruzifixes in den Schulen aller Ordnungen und Stufen wurde sanktioniert durch Zirkular des Unterrichtsministers vom 26. Mai 1926. Das Aufhängen des Kreuzes wurde seinerzeit verfügt durch ministeriale Verordnung vom 11. November 1923 Nr. 250 für die öffentlichen Ämter allgemein und für die Gerichtssäle (Zirkular des Ministeriums für Gnade und Recht vom 29. Mai 1926 Nr. 2134). Das Innenministerium mit der Nota vom 5. Oktober 1984 Nr. 5160 M/1 erklärt die Begründungen des Zirkulars aufgrund von Art. 9 der Modifizierungsvereinbarungen der Lateranverträge vom 18. Februar 1984 (Gesetz vom 25. März 1985 Nr. 121) für gültig, da "die Prinzipien des Katholizismus Teil des historischen Erbes des italienischen Volkes sind" und das Kruzifix das "Symbol unserer Zivilisation" und "das Zeichen unserer humanistischen Kultur und unseres ethischen Gewissens" sei. Diese Anbringung des Kruzifixes als "universalen, von jeder spezifischen Religion unabhängigen" Symbols sei aufgrund eines neuerlichen Urteils des Staatsrates (consiglio di stato) vom 27. April 1988 Nr. 63 mit der italienischen Verfassung vereinbar. Eine jüngere Entscheidung des italienischen Kassationshofes (von dessen Sektion IV nach einem langen und komplexen gerichtlichen Weg am 6. April 2000 erlassen) hat einen Bürger als nicht strafbar angesehen, der sich anlässlich von Wahlen geweigert hatte, das Amt eines Wahlhelfers auszuüben, indem er anführte, seine Religionsfreiheit sei durch das in dem Saal, in dem er tätig werden sollte, aufgehängte Kreuz präjudiziert (in "Il Diritto Ecclesiastico" CXI (2000), Teil II, 217 ff.). Eine gegenteilige Position hat der Appellationshof von Turin im Urteil vom 22. April 1999 eingenommen.