Französische Beiträge zum Thema Ehe und Ehescheidung

1. J. Gaudemet, Église et Cité. Histoire du droit canonique

Paris: Cerf / Montchrestien 1994. 740 S. Kart. F 300.-.

Bei diesem Werk soll insbesondere auf ein Kapitel hingewiesen werden, das für die Fragestellung dieses thematischen Artikels, nämlich den Ehebegriff, eine grundlegende Rolle spielt.

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Zuerst aber einige Worte zu dem Buch. Wie Gaudemet in der Einleitung zu Recht bemerkt, haben sich seit 1953 viele Arbeiten mit der Kommentierung des CIC befaßt. Dabei ist die Beschäftigung mit der Geschichte des Kirchenrechtes in den Hintergrund getreten. Um so hegrüßenswerter ist, daß der Altmeister der französischen Kanonistik dieses Werk nun vorgelegt hat. Wie René Metz in einer Präsentation sagt, nimmt es einen besonderen Rang unter den Handbüchern der Geschichte des Kirchenrechtes ein, die in etwas mehr als 100 Jahren in Deutschland, in Österreich und auch in Spanien erschienen sind. Es handelt sich dabei um die Arbeiten von P. Hinschius "Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland", H. E. Feine "Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche", J. M. Plöchl "Geschichte des Kirchenrechts" und A. Garcia y Garcia "Historia del derecho canonico".

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Das Buch ist in vier Teile gegliedert: Die Kirche im römischen Reich (1.-4. Jahrhundert); Eine neue Welt (Vom römischen Reich bis zur mittelalterlichen Christenheit); Der Glanz des Mittelalters; Die modernen Zeiten (16.-20. Jahrhundert). Es ist in seiner Art ein Kompendium der Geschichte des Kirchenrechtes, wobei die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse berücksichtigt sind. Das gilt ganz besonders auch für das Eherecht, um das es mir hier besonders geht.

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Im Kapitel über das Mittelalter werden unter der Überschrift "Die Kirche und das soziale Leben. Sektion II" Ehe und Familie behandelt. Vor allem neue deutsche und französische Literatur ist eingearbeitet. Für uns ist die Thematik deswegen so interessant, weil mit dem Decretum Gratiani die Grundlagen des heutigen Eherechtes gelegt werden. Gaudemet bringt es fertig, diese Bestimmungen nicht nur aus der Zeit heraus, sondern auch im Hinblick auf heutige Fragestellungen klar und präzise zusammenzufassen. Einiges soll daraus skizziert werden:

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In der Mitte des 12. Jahrhunderts hat das Dekret Gratians die Fragen gestellt: "Was ist die Ehe?" und: "Was begründet die Ehe?" Es zeigt sich hier als Erbe zweier Traditionen. Da ist einmal die von Rom kommende heidnische Tradition, die die Ehe als einen Willensvertrag ansah: "Der Konsens macht die Ehe" (Nikolaus I. an die Bulgaren; Ambrosius). Die andere Tradition (sie wurde als germanische bezeichnet) war der Auffassung, daß die Ehe durch die körperliche Vereinigung zustande kommt. Nur diese macht sie perfekt und unauflöslich. Das Dekret selbst blieb ambivalent. Gratian zitiert beide Meinungen, lehnt sich an die erste an, aber schließt wie folgt: Die Ehe wird begonnen (initur) durch die desponsatio und wird perfekt durch die sexuelle Vereinigung. Dadurch ist auch die Unsicherheit der ersten Dekretisten erklärt. Papst Alexander III. hat der These den Vorzug gegeben, nach der die Ehe durch den Konsens der Parteien zustande kommt, aber die Verbindung erst unauflöslich wird durch die Konsummation. Das ist seit dem 12. Jahrhundert die kanonistische Doktrin geblieben.

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Was war aber nun der Konsens, und worauf war er gerichtet? Die französischen Theologen haben im Gefolge des Petrus Lombardus zwischen den "verba pro futuro" und den "verba de praesenti" unterschieden, dem Engagement für eine zukünftige Ehe und dem Konsensaustausch, der aktuell die Ehe begründete (ähnlich der römisch-rechtlichen Unterscheidung zwischen Verlobung und Ehe). Diese Unterscheidung blieb fundamental für die römisch-kanonische Tradition.

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Es gab noch keine öffentliche Form für den Austausch der verba de praesenti. Die Ehe konnte heimlich abgeschlossen werden, ohne die Zustimmung der Eltern ("klandestine Ehe"). Die Folge war, daß sie leicht aufzulösen war, man verneinte einfach den Eheabschluß. Es wurde aber üblich, die Ehe vor der Kirche abzuschließen, in der Weise, daß ein Priester die Vereinigung segnete, daß eine Messe zelebriert wurde. Die amtlichen Stellen schrieben diese öffentliche Zelebration, soweit sie konnten, vor. Man versuchte auch, die Stabilität der ehelichen Verbindung zu garantieren. Die Unauflöslichkeit der Ehe wurde immer wieder betont, der Ehebruch unterdrückt, die Konkubine gesellschaftlich geächtet..

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Eine große Rolle spielte das Ehehindernis der Verwandtschaft des Inzests; vielleicht wegen seiner besonderen Häufigkeit; es war in der direkten Linie unbegrenzt, in der Seitenlinie reichte es bis zum 7. Grad fränkischer Zählung; das 4. Laterankonzil 1215 schränkte es auf den 4. Grad der Seitenlinie ein. Wurde dieses Hindernis nach der Eheschließung entdeckt, waren die Ehepartner verpflichtet, sich zu trennen. Handelte es sich dabei um Nichtigkeit oder Scheidung? Das mittelalterliche kanonische Recht hat, noch der Nichtigkeitstheorie wenig nahe, für die das römische Recht eher wenig Hilfe bot, schlecht zwischen Nichtigkeit und Scheidung unterschieden. Jede Auflösung des gemeinsamen Lebens. willentlich oder auferlegt, durch Zufall oder aufgrund eines Hindernisses, wurde durch das Wort separatio bezeichnet, manchmal durch divortiurn oder dissolutio. Diese Ungenauigkeit in der Wortwahl gibt die ebenso ungenaue juristische Analyse wieder. Das Hindernis der Verwandtschaft wurde im übrigen oft angeführt, um eine schwierig gewordene Verbindung aufzulösen. Es war auch sehr häufig ein Argument, um das Gesetz der Unauflöslichkeit umzudrehen.

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In dieser Zeit wird die Ehe auch Sakrament und Vertrag. Sacramentum / mystérion (Eph 5, 32) wird auf die Ehe angewendet. Petrus Damianus (vor 1060), Abaelard und Hugo von St. Viktor haben die Ehe in den Rang eines Sakramentes erhoben. Bei Hugo von St. Viktor figurierte die Ehe unter den sacramenta principalia. Er führte eine Unterscheidung in der Zeichenhaftigkeit des Sakramentes der Ehe ein. Durch die fleischliche Verbindung symbolisiert die Ehe die Verbindung von Christus und seiner Kirche. Durch die Übereinstimmung des Willens ist sie Abbild der Vereinigung zwischen Gott und der Seele des Sünders. Dieser kann seinem Gott gegenüber untreu sein. Die Vereinigung, in der er steht, ist also nicht unauflöslich. So, durch die Dualität der sacramenta, hat der Theologe die kanonistische Doktrin bekräftigt Nur die vollzogene Ehe, Abbild der Vereinigung zwischen Christus und der Kirche, ist unauflöslich (Alexander III.).

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Die Ehe ist auch ein Vertrag geworden. Obwohl sie Anhänger der Konsensualtheorie der Ehe waren, sind die römischen Juristen nie so weit gegangen. Sie sprachen zwar von contrahere matrimonium, aber niemals vom contractus matrimonii. Die Vertragsterminologie ist eine Neuerung der mittelalterlichen Romanistik. Das Dekret Gratians kennt dieses Vokabular noch nicht. Für ihn ist die Ehe eine pactio. Aber in der Mitte des 13. Jahrhunderts hat Hostiensis die Ehe als Konsensualvertrag bezeichnet. Die Qualifikation der Ehe als Vertrag wurde, allerdings nicht ohne bestimmte Vorbehalte, durch Albertus Magnus und Thomas, mehr noch durch Bonaventura und Duns Scotus akzeptiert. So ist als Ergebnis der klassischen Doktrin des 13. Jahrhunderts die Ehe Vertrag und Sakrament. Noch wird nicht die Identität von Vertrag und Sakrament behauptet. Aber wir stehen damit am Anfang einer Geschichte, in der die Kirche nicht immer gerade siegreich war.

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Als nächstes möchte ich auf einen Aufsatz hinweisen, der die Ausführungen Gaudemets ergänzt. Er hat die eheliche Treue im mittelalterlichen kanonischen Recht zum Gegenstand.

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2. Jean Werckmeister, La fidélité conjugale dans le droit canonique médíeval

Revue de Droit Canonique 44 (1994), 17-34.

Die RDC hat zusammen mit der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Straßburg in den Jahren 1993/94 ein Kolloquium über die eheliche Treue abgehalten (La Fidélité Conjugale. Droit canonique et traditions). Es wäre sicher interessant, auch die anderen Aufsätze zu besprechen, der von Werckmeister paßt aber besonders hierher: In ihm werden die die Ehe betreffenden Rechtsfragen des 13. Jahrhunderts mit Bezug zur heutigen Problematik von einem Fachmann für klassisches kanonisches Recht dargestellt.

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Auch der Begriff der ehelichen Treue (fides) findet sich im Dekret Gratians. Sie ist unter einem zweifachen Aspekt zu sehen: erstens als das Versprechen, keinen Ehebruch zu begehen und keine neue Ehe zu Lebzeiten des Partners abzuschließen. Der Bruch der Treue kann, im Namen der bei Matthäus gemachten Ausnahme (Ehebruchsklausel), den Bruch der ehelichen Lebensgemeinschaft ohne Wiederheirat rechtfertigen. Das ist auch heutige Lehre. Man kann diese Seite als den negativen Aspekt, im grammatikalischen Sinne, oder auch als den passiven Aspekt der ehelichen Treue sehen. Zweitens ist sie eheliche Pflicht. Darin finden wir das, was die heutige jüngere Doktrin unter der Bezeichnung "Gemeinschaft des ehelichen Lebens" zusammenfaßt. Die Treue ist Verpflichtung zu Beziehungen zwischen den Ehepartnern.

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C. 32, q. 2 ist bei Gratian den ehelichen Beziehungen gewidmet, wir würden das heute als die Ehezwecke bezeichnen. Im ersten Teil zitiert er zwei Autoritäten, Ambrosius und Hieronimus, für die nur die Zeugung (procreatio) die Ehe rechtfertigt. Dann, in einem zweiten Teil, zählt er eine lange Folge von Autoritäten auf, die die causa explendae libidinis, das remedium concupiscentiae, als Ehezweck hervorheben. Die praktische Frage war, ob ein Ehepartner in ein Kloster eintreten kann, ohne daß der andere dies auch tut. Es geht nur mit Zustimmung des anderen Partners.

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Der erste Aspekt der Treue, der Ausschluß sexueller Beziehungen mit einem Dritten, ging im kirchlichen Eherecht nie verloren, wohl aber der zweite. Man spricht heute nicht mehr von der ehelichen Pflicht als Element der Treue. Erst das II. Vaticanum hat ihn wieder hervorgeholt (die Ehe als Gemeinschaft der Liebe und Treue.

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Wer die Aussagen von Gaudemet und Werckmeister überblickt, wird erstaunt feststellen, wie viele Regelungen des Kirchenrechtes seit dessen mittelalterlichen Anfängen erhalten geblieben sind. Ich fasse es nochmals zusammen: Die Ehe ist Sakrament, sie ist Vertrag, sie kommt durch den Konsens zustande und wird durch den Vollzug bekräftigt (wobei der sakramentale Charakter an den Konsens gebunden ist). Eine öffentliche Form ist noch nicht vorgesehen, wohl aber wird die kirchliche Einsegnung propagiert, die Verletzung bestimmter Hindernisse bewirkt die Nichtigkeit der Ehe (vor allem das Ehehindernis der Verwandtschaft, also das Inzestverbot). Man könnte sich jetzt fragen, was verlorengegangen bzw. dazugekommen ist. Verlorengegangen ist vor allem im Hinblick auf den Begriff der Treue der zweite Aspekt: eheliche Pflicht und gegenseitige Unterstützung. Er wird in der heutigen Kanonistik und Rechtsprechung bei der Treue nicht mehr berücksichtigt. Erst seit kurzem gibt es hier neue Tendenzen. Hinzugekommen ist seit der Neuzeit und vor allem seit dem 19. Jahrhundert die noch kräftigere Betonung der Verbindung von Vertrag und Sakrament durch das Lehramt bzw. den Codex. Hinzugekommen sind natürlich die Formpflicht seit dem Tridentinum, die bis in den CIC 1917 hinein verschärft, inzwischen wieder etwas gelockert wurde, und die scharfe juristische Trennung von Nichtigkeit und Auflösbarkeit der Ehe. Offen bleibt die vorrangige Bedeutung des Geschlechtsverkehrs (bis heute!). Vielleicht müßte man hier mit einer schärferen Differenzierung von copula (eigentlich Band; wird bewirkt durch die Verbindung der Familien, später durch den Priester) und commixtio sexuum (ist Sache der Ehepartner) an die Quellen herangehen.

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3. George Duby, Ritter, Frau und Priester. Die Ehe im feudalen Frankreich

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. Kart. 351 S.

In die Zeit des 9. bis 12. Jahrhunderts führt uns das Buch des bekannten französischen Historikers. Es enthält über weite Partien interessante Überlegungen zur Entwicklung nicht nur von Ehebegriff und Eherecht, sondern auch zum Nichtigkeitsverfahren. Anhand vieler Beispiele, vor allem von Ehen aus den gehobenen Schichten (z. B. Eleonore von Aquitanien und Ludwig VII. von Frankreich), wird der damalige Ablauf von Ehetrennungen (Nichtigkeitsverfahren) dargestellt. Deutlich wird, etwa bei Burchard von Worms, daß das Ehenichtigkeitsverfahren im Inzestproblem (kanonistisch: Ehehindernis der Verwandtschaft bis zum 7. Grad der Seitenlinie nach fränkischer Zählung) seinen Ausgangspunkt hat. Sobald eine solche Verwandtschaftsbeziehung öffentlich erwiesen ist, müssen die beiden Gatten vor dem Bischof erscheinen und einen Eid leisten: "Von diesem Tag an werde ich unter keinerlei Vorwand mit dieser meiner Verwandten NN Gemeinschaft haben, mit der ich gegen das Gesetz und meinen rechten Christenglauben Ehebruch und Inzest begangen habe. Weder in Ehe noch Ehebruch werde ich mit ihr Gemeinschaft haben; ich werde mit ihr nicht an einem Tisch essen und trinken und innig nicht unter einem Dach mit ihr aufhalten, es sei denn vielleicht in der Kirche oder an einem anderen öffentlichen Ort, wo kein böser Verdacht aufkommen kann, ... vor Zeugen" (S. 81f).

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Das Verfahren der Trennung ist flexibel. Es liegt in der Hand des Bischofs oder mehrerer Bischöfe. Neben dem Inzest gab es auch noch andere Trennungsgründe: Wenn Frauen des Ehebruchs beschuldigt werden, hat der Richter das Recht, die Scheidung auszusprechen, der Fall ist von Jesus ein für allemal geregelt worden. Wenn der Mann nicht die Ehe zu vollziehen vermag, kann die Ehe ebenfalls getrennt werden.

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Wenn der Bischof auch das Recht und manchmal die Pflicht hat, das Eheband zu trennen, so ist er doch weniger frei, den Getrennten das Eingehen einer neuen Verbindung zu Lebzeiten ihres vorigen Partners zu gestatten. Hier kommt es vor allem auf sein weises Ermessen an. Frauen und Männer werden unterschiedlich behandelt. Das Dekret Burchards nennt zwei Gründe, aus denen ein Mann seine Frau nicht nur rechtmäßig, sondern auch zu seinem Nutzen verstoßen kann, um die Gattin zu wechseln: wenn er sie überführt, ihm nach dem Leben getrachtet zu haben; und wenn er beweist, daß sie mit ihm verwandt ist (S. 87 f). Im Falle der zweiten Form der "Ehe", dem Konkubinat, konnte die Frau verstoßen werden um eine Ehe einzugehen. Aber auch Frauen konnten wieder verheiratet werden.

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Die Geschichte der Trennung der Ehe Eleonores von Aquitanien offenbart, welche Hochachtung man auf der obersten Gesellschaftsebene in Frankreich für die juristischen Prozeduren innerhalb eines hierarchisch zentralisierten Kirchenapparats hatte, der sich geschmeidig auf die jeweilige Situation einstellte. Deutlich wird vor allem, wie dreißig Jahre nach dem Tode Ivos von Chartres das Ehehindernis der Verwandtschaft gehandhabt wurde. Die kirchlichen Autoritäten behielten das Inzestverbot in der Hinterhand, um sich seiner bei Gelegenheit zu bedienen.

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Sehr kritisch schildert Duby die damalige kirchliche Trennungspraxis. Dem Sünder, der sich der Jurisdiktion der Priester unterwirft, wird verziehen. Ein guter Christ muß das Spiel mitmachen. Es war ein subtiles Spiel, das überdies durch die "Begehrlichkeit", die bis in die höchsten Sphären der kirchlichen Hierarchie hineinreichte, und durch die Widersprüchlichkeit der kanonischen Texte kompliziert wurde. Auf der Basis ein und desselben Rechts konnte Eugen III. in Reims eine Ehe trennen und im folgenden Jahr in Tusculum eine andere von neuem verbinden. In jedem Fall handelte er zum "Nutzen" der Kirche. Entscheidend war, daß deren Autorität anerkannt wurde.

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Dubys Werk zeigt die Anfänge des heutigen kanonistischen Systems auf, schildert, wie es dazu im Wechselspiel kirchlicher und gesellschaftlicher Interessen, von Theologie / Kanonistik und Praxis gekommen ist. Das Kirchenrecht blieb aber auch bis zum CIC 1917 ein geschmeidiges Recht. Erst die erste Kirchenrechtskodifikation hat ihm viel von seiner Elastizität genommen. An die Stelle offener Aussagen sind abstrakte Rechtssätze getreten, die die pastorale Funktion des Rechtes eher behindern als fördern. Das II. Vaticanum und der CIC 1983 haben hier wieder eine Wende gebracht, geschmeidigere Formulierungen wurden aufgenommen, z. B. communio (non plena) statt obex. Dies ermöglicht interpretative Lösungen bei der Frage der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten, ruft aber gleichzeitig das Lehramt auf den Plan.

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4. Armand le Bourgeois, Questions des divorcés à l'Église

Paris: Desclée de Brouwer 1994. 107 S. Kart. F 76,-.

In der ThQ 171 (1991) 74-75 konnte schon einmal über ein Buch des bekannten emeritierten Bischofs von Autun (1960-1987) berichtet werden. Damals hat Bourgeois aus den zahlreichen Briefen berichtet, die er von Geschiedenen und wiederverheirateten Geschiedenen erhalten hat, und auf pastorale Lösungen hingewiesen. Es ist interessant, wie in der heutigen Zeit die Briefliteratur wieder zunimmt und wie deutlich wird, daß sie ebenfalls Quelle wissenschaftlicher, vor allem aber seelsorglicher Überlegungen sein kann. Wie Bourgeois in der Einleitung schreibt, hat er diesmal die Form eines Katechismus gewählt, also die Form von kurzen Fragestellungen mit Antworten.

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Auf die Frage, ob jemand, der sich wiederverheiratet, eine Sünde begeht, antwortet Bourgeois differenziert. Es ist zwischen der Frau, die verlassen wird, ihre Kinder alleine aufziehen muß und dann einen neuen Partner findet, und zwischen dem Mann und der Frau zu unterscheiden, die sich ohne bestimmtes Lebensprojekt verehelichen, und das vielleicht sogar mehrmals. Zu den Nichtigerklärungen bemerkt Bourgeois, daß die Kirche keine Ehe nichtig macht. Sie "ne casse pas les mariages". Sie stellt nur fest, daß im Moment der Ehe der Konsens ungültig war. Alle Nichtigkeitsgründe müssen vor der Ehe vorliegen. Das Scheitern der Ehe ist kein ausreichender Grund für die Nichtigerklärung. Auf die Frage, ob die Vernehmungen in den Gerichten nicht etwas Odiöses an sich haben, wird durchaus zugegeben, daß diese eine penible Seite für die Betroffenen haben. Bourgeois verweist ferner auf "Familiaris consortio". Dort ist in Nr. 84 ausdrücklich davon die Rede, daß es Eheleute gibt, die eine zweite Verbindung eingegangen sind im Hinblick auf die Erziehung der Kinder und die im Gewissen die subjektive Sicherheit haben, daß die vorangegangene Ehe unwiderruflich zerstört ist, daß sie niemals Gültigkeit hatte. Es ist nun klar, daß diese Sicherheit auf soliden Gründer ruhen muß. Man muß sie erforschen, um sich nicht zu täuschen. "Mais le cas est explicitement envisagé, ce qui constitue une nouveauté." Was offenbleibt, ist die Frage, warum andere christliche Kirchen in diesen Fällen anders vorgehen.

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Der zweite Teil des Buches ist den Vorschlägen verschiedener Synoden gewidmet: Er beginnt mit einer Synthese der synodalen Aktivitäten und stellt dann die Position einzelner in letzter Zeit abgehaltener Diözesansynoden dar (Le Mans, Marseille, Auxerre, Aix-en-Provence, Evry). Lange Zeit waren es ja die Synoden. die in diesen Fragen Konkretisierung des gesamtkirchlichen Rechtes gebracht hatten. So ist es sehr wichtig. die Entwicklung auf den Synoden weiter zu verfolgen. Schließlich sind sie mehr als nur Ausdruck der Bewußtseinsbildung oder Gesprächsforen.

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Abgeschlossen wird das Buch mit verschiedenen Dokumenten. Es beginnt mit einem Abdruck der Übersetzung des Hirtenbriefs der drei oberrheinischen Bischöfe in französischer Fassung (aus "La Documentation Catholique"). Daneben werden auch Dokumente einzelner französischer Bischöfe abgedruckt (Jacques David. Jean-Charles Thomas, Gérard Daucourt). Am Schluß finden sich Gebete für den Abschluß einer neuen Ehe.

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Das Buch ist jedem zu empfehlen. der sich in der Pastoral mit Geschiedenen und wiederverheirateten Geschiedenen im Gespräch befindet. Vielleicht sollte man ergänzen, was Bischof Jacques Gaillot in einem seiner Werke zum Nichtigkeitsverfahren, insbesondere zur Nichtigerklärung der Ehe von Caroline von Monaco, andeutet: Nicht nur die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener bzw. deren Hinzutreten zu den Sakramenten, sondern auch Nichtigkeitsverfahren können in der  Öffentlichkeit unerwünschte Wirkungen haben. Die Tatsache, daß auch die monegassische Prinzessin ein Recht auf Nichtigerklärung ihrer Ehe hatte, konnte in der Öffentlichkeit nicht vermittelt werden.

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Richard Puza