Gerald Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983

(= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 21). Berlin: Duncker & Humblot 1993. 229 S. Kart.

Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die in Sommer 1992 der  Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. vorlag (Alexander Hollerbach). Sie ist in zwei Kapitel gegliedert: "Societas Perfecta" und "Populus Dei". Dogmen- und entstehungsgeschichtliche Aspekte (I); Unabhängigkeit und Kooperation. Rechtsdogmatische Aspekte (II). Angeschlossen sind eine Zusammenfassung, ein Literaturverzeichnis, ein Canonesregister, ein Personenregister und ein Sachwortregister.

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Kap. 1 geht zunächst auf die vorkodikarische Doktrin des "Ius Publicurn Ecclesiasticum" (IPE) ein. Dieses ist nach den römischen Studienordnungen nach wie vor Lehrfach und wird in den romanischen Ländern auch gelehrt. Seine Kernthese ist die Lehre von der societas perfecta. Sie wurde von den katholischen Kirchenrechtlern des 18. und 19. Jahrhunderts in Erwiderung der Freiheitsbeschränkungen der Kirche durch den Staat entwickelt und besagt daß wie der Staat auch die katholische Kirche eine societas perfecta sei und daher dem Staat irgendeine Aufsicht oder Eingriffskompetenz in Kirchenangelegenheiten von Rechts wegen nicht zustehe. Die Kirche als societas perfecta ist eine societas inaequalis, also hierarchisch und nicht demokratisch strukturiert. Ihre Gewalt stammt von Christus und ist der höchsten kirchlichen Autorität, dem Papst als Nachfolger Petri, übertragen. Dieser leitet die Kirche dem Willen Christi entsprechend gemeinsam mit den Bischöfen als successores Apostolorum. Die Machtstruktur der Kirche ordnet sich also von oben nach unten (S. 192). Nach den Aussagen Leos XIII. ist auch der sich als freiheitlich begreifende Staat wesensgemäß der Wahrheit verpflichtet. Folglich ist er gehalten, den Geboten des Glaubens und der lex naturae zu gehorchen und diesen Gehorsam in Forrn einer ordinata colligatio (geordneten Verbundenheit) mit der katholischen Kirche zu verwirklichen.

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Der nächste Abschnitt gilt dem Verhältnis von Kirche und Staat im CIC 1917 sowie einigen Bausteinen seiner Entstehung. Göbel fügt einzelne Bestimmungen des Codex zu einem Gebäude zusammen. Nach dem Syllabus Pius' IX., einem Lehrdokument, ist der CIC 1917 das erste bedeutendere Rechtsdokument, das die Positionen des IPE zurnindest im Grundsatz übernahm. Fundamentaler Hinweis auf die Lehre von der societas perfecta ist c. 100 § 1. Die Kirche ist persona moralis ex institutione divina. Darüber hinaus werden eine Reihe von sog. iura nativa der Kirche reklamiert, wie z. B. die Verkündigungsfreiheit, die freie Ämterbesetzung, die freie Klerikerausbildung, die Vermögensfähigkeit und das freie Legationsrecht. Göbel hebt hervor, daß durch das Beibehalten des Rechtsanspruchs auf klerikale Standesprivilegien und darauf, zeitliche Strafen (poenae temporales) zu verhängen sowie mit staatlicher Hilfe zu vollstrecken (sog. brachium saeculare), der Codex erkennen ließ, daß er die mit potestas indirecta oder potestas directiva umschriebene Position privilegierten katholischen Einflusses auf Staat und Gesellschaft noch nicht aufgegeben hatte (S. 192).

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Die Diskussion um die Frage, ob der Codex sich dezidiert zum Verhältnis von Kirche und Staat äußert, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Wenn Göbel aber schreibt, daß er die Möglichkeit hatte, bei Georgio Feliciani Einsicht in die Akten der Codexkommission zu nehmen (wohl im Mikrofilm), so muß bemerkt werden, daß er wesentliche Teile dieser Akten, die Aussagen zum CIC und dem Verhältnis von Kirche und Staat machen, nicht gesehen hat. Sie liegen im Vatikanischen Archiv und sind jetzt zugänglich. Aus ihnen ergibt sich, daß Pietro Gasparri und seine Mannschaft das Verhältnis von Kirche und Staat wohlweislich ausgeklammert haben. Die Entwürfe des CIC enthielten nämlich noch bis 1912 ganz andere Einleitungsbestimmungen (cc. 1-6), als wir sie dann später finden. Ursprünglich wurde in diesen ersten canones die societas-perfecta-Lehre entwickelt. Dies hätte aber das Verhältnis von Kirche und Staat belastet. So ist man in einer späteren Phase darauf verfallen, an den Beginn des Codex die Bestimmungen über das Verhältnis zu den vorkodikarischen Normen aufzunehmen. Nur auf diese Weise (vor allem durch die cc. 3.5.6) konnte den Staaten gegenüber garantiert werden, daß mit dem neuen Kirchenrecht (zunächst) das Verhältnis von Kirche und Staat nicht beeinflußt werden sollte. Gasparri stand deswegen mit mehreren bedeutenden Bischöfen im deutschen Reich und in der österreichischj-ungarischen Monarchie in Verbindung. Auch diese Briefe sind vorhanden. Ich habe über diese Frage bereits einiges in meinem Aufsatz über "Kirchenrecht als Zeitgeschichre" (ThQ 169 [1989] 81ff., bes. 98) berichtet und beabsichtige, demnächst Weiteres zu veröffentlichen.

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In dem Abschnitt "Der Weg zu einem neuen Codex" S. 67 ff.) werden der konziliare Impuls, die Vorarbeiten zum neuen CIC und auch das Projekt der "Lex Ecclesiae Fundamentalis" (LEF) behandelt. Göbel weist darauf hin, daß in den Entwürfen zur LEF deren TP (Textus prior von 1969) und deren TR (Textus recognitus von 1976) wieder eine quasioffizielle Zusammenstellung der Materie des IPE mit systematischem Anspruch enthalten. Inhaltlich war der TR dreigegliedert: die eigene Sendung der Kirche als doktrinelle sedes materiae des Verhältnisses der Kirche zu jeder Form menschlicher Gemeinschaft; die Kirchen- und Religionsfreiheit als (juristisches) Grundprinzip dieses Verhältnisses und seine konkreten Ausprägungen: die Stellung der Kirche in der Völkergemeinschaft. Ausführlich wird die weitere Entwicklung dieses Textes dargestellt. Im Fazit ergibt sich, daß die LEF bis zu ihrem letzten Entwurf 1980 expressis verbis auf die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat eingegangen ist. Dabei hat man diesem im Hinblick auf die Konzilsdokumente GS und DH mit der Religionsfreiheit eine neue Grundlage gegeben. Es sollte zudem nicht losgelöst von theologischer Begründung, sondern im Rahmen des Kapitels über die "Sendung der Kirche"behandelt werden. Allerdings wurde, wie Göbel bemerkt, eine wirkliche Überwindung der Societas-Perfecta-Doktrin bzw. eine überzeugende Alternativkonzeption nicht erreicht (S. 98). Eine lngerenz der Kirche im Politischen wird nunmehr als rnoralisch-appellativ, nicht mehr als juridisch-zwingend verstanden und hauptsächlich auf die Menschenrechte bezogen deren Verwirklichung und Wahrung die Kirche ausdrücklich auf ihre Fahnen schreibt (S. 98). Legitimationsgrundlage der Menschenrechte sind Menschenwürde und Offenbarung. Die LEF ist nicht gekommen, und der CIC des Jahres 1983 hat, wie Göbel meint, den angedeuteten "ParadigmenwechseI" nicht nachvollzogen (S. 193). Göbel führt dazu an, daß c. 113 § 1 des neuen CIC entsprechend c. 100 § 1 des CIC 1917 nach wie vor von der katholischen Kirche als persona moralis spricht, die formaliter alle wesentlichen Einzelfreiheitsrechte gegenüber dem Staate hat, die schon der alte CIC aufgelistet hatte (S. 193). Sie erscheinen nach wie vor als Hoheitsrechte. So präsentiert sich die Kirche kirchenrechtlich weiterhin als eine eigenberechtigte Institution hierarchischer Natur. Das kodikarische Persona-Moralis-Konzept institutioneller Freiheit widerspricht inhaltlich aber dem Modell der Religionsfreiheit nicht. Dadurch, daß der neue CIC alle diejenigen Ansprüche zurückgenommen hat, die noch im CIC des Jahres 1917 Ingerenz- oder Privilegienpositionen angedeutet hatten, bewegen sich die kirchlichen Ansprüche im Rahmen dessen, was auch aus dem Blickwinkel der Religionsfreiheit zu begründen wäre. "Denn nicht das Persona-Moralis-Konzept von Kirche, ja nicht einmal das überkommene, reichlich kritisierte Societas-Perfecta-Konzept widerspricht als solches den Grundsätzen der Religionsfreiheit. Dem widerstreitet allein die Lehre von der kirchlichen potestas indirecta in temporalibus (scilicet politicis). Für die Beibehaltung dieser Auffassung finden sich im neuen CIC aber keinerlei Hinweise mehr" (S. 193).

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Ausführliche Erörterungen widmet Göbel dem Staatskirchenvertragsrecht von seiten der Kirche. Richtig ist, daß auch Bischöfe Verträge abschließen können, ebenso Bischofskonferenzen. Strittig ist hingegen die päpstliche Zustimmungsbedürftigkeit von Bischofsverträgen. Neben der Abschlußkompetenz werden weitere Grundfragen des Konkordatsrechtes behandelt, so die der Transformation und des Inhaltes von Konkordaten. Das Konkordatsrecht ist ja in Bewegung geraten, auch inhaltliche Nuancen zeigen sich in den in inzwischen in Kraft getretenen Bistumsverträgen und den Verträgen der evangelischen Kirche mit den fünf neuen Bundesländern. Deutlich tritt bei den Bistumsverträgen der Heilige Stuhl als Vertragspartner auf. Die Bischöfe bzw. die Bischofskonferenz geben nur den Anstoß. Sowohl der Codex wie die neue praktische Entwicklung im Verhältnis des Heiligen Stuhls zu den demokratischen Staaten zeigen. daß der Weg des Vertragsrechtes noch lange die einzige Möglichkeit bleiben wird, pragmatisch die zwischen Kirche und Staat offenen Fragen zu lösen. Vielleicht hätte bei der Darstellung des Vertragsrechtes der Blick auf Nachbarstaaten. insbesondere auf Italien und jetzt auch auf Polen, noch weitere interessante Aspekte gebracht. Gerade in Italien ist es ja heute die Bischofskonferenz, die eine ganz wesentliche Rolle im Vertragsrecht spielt. Der Heilige Stuhl schließt die Verträge ab, die Konkordate, der Bischofskonferenz ist dann die nähere Regelung im Wege einer intesa überlassen. Das gleiche gilt auch für Spanien, so daß die Bischofskonferenzen vielleicht doch noch in die Rolle einer moralischen Person hineinwachsen könnten.

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Göbels Untersuchung liefert einen wesentlichen und weiterführenden Beitrag zur Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat aus der Sicht der katholischen Kirche, besonders des katholischen Kirchenrechts. Sie geht auch über die bisherige Literatur hinaus. Man wird sich bei der neuen Entwicklung in einzelnen Staaten heute fragen müssen, ob diese nicht auch schon über den CIC 1983 hinausgegangen ist. Wenn Ulrich Stutz seinerzeit zur Konkordatspolitik des Heiligen Stuhles nach 1917 gemeint hat. daß durch die Konkordate der Codex 1917 marschierte, so kann man heute wohl sagen. daß der Codex 1983 die Konkordate vorbereitet hat (ich denke vor allem an die vermögensrechtlichen Regelungen und die Finanzierung des Klerus, die eindeutig auf Italien ausgerichtet waren), daß er aber jetzt nicht durch die Konkordate marschiert, sondern nur das eine rechtliche Instrument der Kirche ist, das andere sind die Verträge.

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Richard Puza