09. Juni 2004

Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 56/2004 vom 09.06.2004

Verfassungsbeschwerde gegen Ladenschlusszeiten an Samstagen und Sonntagen erfolglos

 

Das grundsätzliche Verbot der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts. Auch die Regelung zum Ladenschluss der Verkaufsstellen am Samstag verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Gegenteiliges kann insoweit wegen Stimmengleichheit im Senat nicht festgestellt werden. Die Verfassungsbeschwerde eines Warenhauses (Beschwerdeführerin; Bf) gegen das gesetzliche Verbot der Öffnung von Verkaufsstellen an Samstagen über die gesetzliche Ladenöffnungszeit hinaus sowie an Sonntagen wurde zurückgewiesen.

Wegen der Einzelheiten des dem Ausgangsverfahren zu Grunde liegenden Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung Nr. 84/2003 vom 16. Oktober 2003 verwiesen.

In den Entscheidungsgründen heißt es:

1a. Die Regelung des Ladenschlussgesetzes zu den Ladenöffnungszeiten der Verkaufsstellen am Samstag ist formell verfassungsgemäß. Sie ist Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung. Die Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG in der seit 1994 maßgebenden Fassung an das Gesetzgebungsrecht des Bundes sind zwar nicht erfüllt. Das Ladenschlussgesetz gilt jedoch gemäß Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG als Bundesrecht fort. Die Zuständigkeit zur Änderung einzelner Vorschriften liegt dann weiterhin beim Bundesgesetzgeber. Eine grundlegende Neukonzeption ist ihm jedoch verwehrt. Der Bund hat sich bei der Modifizierung des Ladenschlussgesetzes im Jahr 1996 auf Einzelheiten beschränkt. Die Regelung zum Ladenschluss an Samstagen ist mit Art. 12 Abs. 1 GG auch materiell vereinbar. Sie dient dem Gemeinwohlbelang des Arbeitszeitschutzes, und zwar hinsichtlich der Lage der Arbeitszeit im Tagesablauf. Umfasst ist der Schutz vor Nachtarbeit. Auch will der Gesetzgeber Konkurrenzvorteile für Unternehmen unterbinden, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und deshalb an die allgemeinen Arbeitszeitregeln nicht gebunden sind. Das allgemeine Arbeitszeitgesetz kann einen verkaufsfreien Abend nicht wirksam sichern. Das Betriebsverfassungsgesetz bietet zwar Möglichkeiten für einen Schutz der beschäftigten Arbeitnehmer auch im Hinblick auf die Arbeitszeitverteilung, garantiert diesen aber nicht. Nicht gleich geeignet sind ferner Tarifverträge. Das gesetzgeberische Anliegen ist bei Selbstregulierung durch Marktkräfte nicht gleich wirksam wie bei einer strikten gesetzlichen Grenze erreichbar. Bei der Prüfung der Angemessenheit der Ladenschlussregelung ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber Ausnahmeregelungen für einzelne Gewerbe, Örtlichkeiten oder Warengruppen vorgesehen hat. Betroffen sind davon Waren wie etwa Arzneimittel, die dringend benötigt werden und deren Bedarf sich für den Nachfragenden unvorhersehbar einstellt, ferner Produkte wie Sonntagszeitungen, frische Backwaren, Früchte oder Blumen. Hinzu kommen Sonderregeln für den Verkauf von Reisebedarf, aber auch von Waren des täglichen Ge  und Verbrauchs und von Geschenkartikeln an Personenbahnhöfen oder Flughäfen. Weiter existieren Sonderregelungen für Kur- und Erholungsorte sowie aus Anlass von Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen und Ausnahmen für Tankstellen sowie Kioske.

Nach Auffassung der die Entscheidung insoweit tragenden Richterinnen und Richter Haas, Steiner, Hohmann-Dennhardt und Bryde beschränkt die Ladenschlussregelung die Berufsausübungsfreiheit trotz der Ausnahmeregelungen nicht unangemessen. Der Gesetzgeber hat seinen erheblichen Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Die Ausnahmeregelungen stellen die hohe Bedeutung des besonderen Arbeitszeitschutzes im Einzelhandel nicht in Frage. Diesen Schutz gewährt das Ladenschlussgesetz hinsichtlich der Verteilung der Arbeitszeit im Tagesablauf und insbesondere als Schutz vor Nachtarbeit nach wie vor für weit über 95% der Ladenangestellten. Der Anteil der vom Ladenschluss ausgenommenen Betriebe wird im Einzelhandel auf etwa 6% geschätzt. Der Erwartung möglicher Umsatzsteigerungen und Gewinne ist jedenfalls verfassungsrechtlich nicht der Vorrang vor dem Arbeitnehmerschutz einzuräumen. Der Gesetzgeber durfte auch berücksichtigen, dass eine Freigabe der Ladenöffnungszeiten zu einem Verdrängungswettbewerb zu Lasten kleinerer Geschäfte führen kann und die im Handel tätigen Frauen besonders belastet sowie benachteiligt. Weiter darf der Gesetzgeber den Arbeitszeitschutz und den Nachtarbeitsschutz für unterschiedliche Wirtschaftszweige unterschiedlich ausgestalten. Die in bestimmten Bereichen vom Gesetzgeber vorgesehenen Ausnahmen sind durch besondere Zwecke gerechtfertigt. Der Gesetzgeber ist aber zur Prüfung verpflichtet, ob eine bundeseinheitliche Regelung weiterhin sachgerecht ist und ob das Ladenschlussrecht durch Landesrecht ersetzt werden kann.

Die Richter Papier, Jaeger, Hömig und Hoffmann-Riem halten die Beschränkung der Ladeninhaber in den nicht privilegierten Bereichen trotz des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers schon jetzt für nicht mehr angemessen. Das Ziel eines besonderen Arbeitszeitschutzes im Einzelhandel kann nur mit dem Gewicht berücksichtigt werden, das der Gesetzgeber ihm nach seinem Konzept erkennbar noch zumisst. In den Ausnahmebereichen geht er nicht mehr von einem hohen Gewicht aus und sieht den Arbeitnehmerschutz nach den allgemeinen Arbeitszeitregeln als hinreichend an. Es fehlen rechtfertigende Gründe, warum diese in densonstigen Bereichen nicht ebenfalls ausreichen.  Ein Rechtfertigungsgrund folgt nicht aus dem Schutz der Nachtruhe, und zwar auch nicht für die Zeit ab 20.00 Uhr. Es ist kein Grund ersichtlich, warum 20.00 Uhr als Beginn der Nachtruhe einzustufen wäre. In den Ausnahmebereichen lässt der Gesetzgeber den besonderen Arbeitszeitschutz im Einzelhandel gegenüber Konsum  und Erwerbszwecken zurücktreten, und zwar auch dann, wenn es dafür keine besonderen Gründe gibt, wie etwa die Sicherung der Versorgung mit Arzneimitteln oder die Verfügbarkeit von unmittelbar auf das Reisen bezogenen Gegenständen. Die Ausnahmeregelungen gehen über diese Zielsetzung weit hinaus. Es leuchtet nicht ein, warum beispielsweise die an großen Bahnhöfen gegebenen Möglichkeiten zum Erlebniseinkauf und zum Einkauf von Artikeln des täglichen Bedarfs ein Zurücktreten des besonderen Arbeitszeitschutzes dort rechtfertigen sollen, anderswo aber nicht. Die vom Gesetzgeber gewählte Abgrenzung ist nicht mehr gerechtfertigt, wenn das Sortiment der verkaufbaren Waren derart weit gezogen wird wie gegenwärtig etwa an Bahnhöfen und Tankstellen und wenn jedermann einkaufsberechtigt ist. Die geschaffene Regelung enthält viele Unstimmigkeiten und führt zu hohen Risiken von Vollzugsdefiziten.

b. Nach der Auffassung der die Entscheidung tragenden Richter ist die Ladenschlussregelung für den Samstag auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar. Für Anbieter von Waren, die nicht unter das Ladenschlussgesetz fallen, und für Gewerbebetriebe dürfen andere Betriebszeiten gelten als für Einzelhandelsgeschäfte. Gewerbebetriebe wie das Verkehrsgewerbe und das Gaststättengewerbe unterscheiden sich in so erheblichem Maße von dem Einzelhandel, dass der Gesetzgeber nicht zu einer für alle einheitlichen Regelung verpflichtet ist. Arbeitnehmer in Einzelhandelsgeschäften sind besonders schutzbedürftig. Denn Ladeninhaber tendieren dazu, ihre Läden dann zu öffnen, wenn andere Arbeitnehmer regelmäßig nicht arbeiten, weil diese gerade dann als Kunden der Einzelhandelsgeschäfte angesprochen werden können. Nach Auffassung der anderen vier Richter verstößt die Privilegierung von Einzelhandelsgeschäften in den Ausnahmebereichen, soweit dort allgemein Konsum- und Erwerbsinteressen befriedigt werden können, gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Dies folgt aus den gleichen Gründen, die zur Verfassungswidrigkeit der Regelung nach Art. 12 Abs. 1 GG führen.

2. Die Regelung über die Öffnung an Sonn- und Feiertagen ist mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Sie verletzt keine verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition der Bf. Das Verbot der Sonn- und Feiertagsöffnung ist gerechtfertigt. Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage sind als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung verfassungsrechtlich durch Art. 140 GG geschützt. Im Einzelnen wird dazu in der Entscheidung ausgeführt: Die Institution des Sonn- und Feiertags ist unmittelbar durch die Verfassung garantiert, die Art und das Ausmaß des Schutzes bedürfen aber einer gesetzlichen Ausgestaltung. Ein Kernbestand an Sonn- und Feiertagsruhe ist unantastbar, im Übrigen besteht Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Geschützt ist die Möglichkeit der Religionsausübung an Sonn- und Feiertagen, aber auch die Verfolgung profaner Ziele wie die der persönlichen Ruhe, Besinnung, Erholung und Zerstreuung. Insbesondere das geänderte Freizeitverhalten der Bevölkerung führt dazu, dass "Arbeit für den Sonn- und Feiertag" in Form von Arbeiten, welche den Freizeitbedürfnissen der Bevölkerung zugute kommen, nachgefragt wird. Dem darf der Gesetzgeber durch Ausnahmeregelungen Rechnung tragen. Bei der Abwägung zwischen den Freizeitbelangen der Bevölkerung und der Belastung der Arbeitnehmer durch Arbeit ist aber ein hinreichendes Niveau des Sonn- und Feiertagsschutzes zu wahren. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, Ausnahmen von der Sonn- und Feiertagsruhe für Einzelhandelsgeschäfte vorzusehen. Deshalb verletzt das Verbot der Ladenöffnung die Bf nicht in ihrem Grundrecht.

Das Urteil ist mit Ausnahme der Entscheidungen zu den Fragen, ob die Ladenschlussregelung für den Samstag eine angemessene Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit für Ladeninhaber ist und mit Art. 3 Abs. 1 GG im Einklang steht, einstimmig ergangen.

Urteil vom 9. Juni 2004 - 1 BvR 636/02 -

Karlsruhe, den 9. Juni 2004